Galgentod
durchgekommen.
Ein Gefühl von innerer Wärme hüllte ihn ein. Dabei verdrängte er die leise Stimme, die ihm sagen wollte, dass er sich nur selbst froh machte.
Die nächste Etage lag vor ihm. Der nächste Seufzer entfuhr ihm.
Seit wann grübelte er so intensiv über seine Gefühle für Anke nach? Seit sie fort war? Oder hatte es einen ganz anderen Grund? Nämlich Mirna Voss?
Egal, was er ermittelte – am Ende landete er immer wieder bei ihr. Viele Hinweise deuteten auf diese junge Frau, deren Rolle er bei den Lehrermorden selbst nicht verstand. Und doch wehrte sich alles in ihm, in ihr eine Verdächtige zu sehen. Lag es daran, dass Mirna ihm gefiel? Ihre ständigen Annäherungsversuche schmeichelten ihm. Dabei wusste er nur zu genau, wohin so etwas führen konnte. Bernhard Diez arbeitete jetzt als Nachtwächter.
Erst auf der obersten Stufe im fünften Stock spürte er, dass etwas anders war. Er schaute sich um. Mirna war nicht da.
In den letzten Tagen hatte er sich schon an ihren Anblick auf dem obersten Treppenabsatz gewöhnt. Ihre geschickten Versuche, in seine Wohnung hineingelassen zu werden, reizten ihn sogar. Er sah es als Spiel an – ein Spiel mit dem Feuer.
Dabei müsste er schlauer sein und die Finger davon lassen. Seine ambivalenten Gefühle für Mirna blieben trotzdem. Mit solchen unüberlegten Fehltritten hatte er sich damals seine Versetzung von Köln nach Saarbrücken selbst eingehandelt. Hatte keine Gelegenheit ausgelassen, seine Unfähigkeit zu beweisen. Es war kein Zufall, dass man ihm im Polizeipräsidium in Köln nicht behalten wollte. Damals hatte er für sich selbst Entschuldigungen gesucht. Dass er alkoholabhängig war, hatte er erst eingesehen, als seine Frau und seine Tochter durch sein Verschulden verunglückt waren. Auf vereisten Straßen waren sie zu einem Arzttermin gefahren, eine Fahrt, die Erik hätte übernehmen sollen. Doch er war betrunken gewesen, hatte das Ausmaß der Gefahr nicht erkannt. Erst als sie im Straßengraben gefunden und von Feuerwehrmännern aus den Wrackteilen herausgeschweißt worden waren, hatte er begriffen, was er an seiner Frau wirklich gehabt hatte.
Immer hatte sie zu ihm gehalten. Hatte ihm seine Sauferei verziehen. Besser wäre es gewesen, sie hätte ihm einen ordentlichen Tritt in den Hintern verpasst. Dann wäre sie noch am Leben. Und er ein glücklicher Familienvater.
Aber was war er heute?
Ein einsamer Mann, der sich nach der Nähe eines lieben Menschen sehnte und dabei Gefahr lief, eine falsche Entscheidung zu treffen.
Erik betrat seine Wohnung, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und steuerte die vierzig Quadratmeter an, die sein Reich darstellten. Wieder landeten seine Gedanken bei Mirna. Einerseits konnte es für ihn nur gut sein, dass sie ihn in Ruhe ließ. Andererseits beschäftigte in die Frage, ob sie gerade wieder etwas ausheckte – jemanden zu einer kriminellen Handlung verleitete. Er glaubte doch tatsächlich so etwas wie Sorgen um sie zu spüren.
Seine Tochter wäre heute im gleichen Alter wie Mirna.
Diese Erkenntnis traf ihn unvermittelt und mit aller Härte. Sie machte ihm deutlich, wie alt er inzwischen war. Für Mirna ein alter Mann. Er könnte tatsächlich ihr Vater sein.
Er riss die Fenster weit auf und ließ frische Luft herein, damit seine Gedanken wieder klar wurden. Dieser Abend bot eine besonders schöne Aussicht. Spiegelungen des Sonnenuntergangs funkelten auf dem bewaldeten Hügel des Eschbergs. In den Fenstern der Häuser inmitten des vielen Grüns leuchteten gelbe, orange und rote Lichtblitze auf. Erik betrat den kleinen Balkon und genoss den Anblick. Er beschloss, dort zu Abend zu essen. Inzwischen hatte er sich an die einsamen Stunden nach Feierabend gewöhnt. Der Balkon vermittelte ihm ein Gefühl von Naturnähe, von Lebendigkeit, die ihn die vielen Stunden im Auto oder im Büro vergessen ließ. Tief atmete er durch, bevor er zurückkehrte und etwas Tiefgefrorenes in die Mikrowelle stellte. Innerhalb von fünf Minuten war sein Essen fertig. Was für ein Luxus!
Die Geräusche des Abends beruhigten ihn, lullten ihn sogar ein. Nach seinen Ćevapčići lehnte er sich zurück, schloss die Augen und entspannte sich. Es dauerte nicht lange, bis ihn die Müdigkeit übermannte. Bevor er auf dem Balkon einschlief, schlurfte er durch die Balkontür. Schon stand er vor dem Bett. Seine kleine Wohnung ließ ihm nicht viel Bewegungsspielraum. Das hatte den Vorteil, dass alles dicht beieinander lag, aber auch
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