Galgenweg
mein Mitgefühl mit einer Handbewegung ab.
»Karen ist zu mir gezogen«, fuhr sie fort. »Ich war … ich war so stolz auf sie. Sie ist weiter zur Schule gegangen, dann hat sie studiert, das ganze Programm.«
»Was hat sie gemacht?«, fragte Williams.
»Anglistik«, erwiderte Agnes, die ihre Frage möglicherweise missverstanden hatte. »Sie hat es als Journalistin versucht, hat Artikel für die Zeitungen in Strabane geschrieben.«
»Irgendwas Kontroverses?«, fragte Hendry.
»Ach Gott, nein«, erwiderte Agnes und blies auf die Glut ihrer Zigarette. »Filmkritiken und so was.«
»Fällt Ihnen irgendjemand ein, der vielleicht etwas gegen sie hatte?«, fragte ich. »Ex-Freunde? Aktuelle männliche Freunde?«
»Sie hatte keinen Freund«, sagte Agnes. »Karen war ein liebes Mädchen. Sie hatte keine Feinde.«
»Irgendeine Ahnung, wo sie gestern Abend gewesen sein könnte?«, fragte Williams.
»Sie wollte mit Freundinnen in Letterkenny auf die Piste gehen, ein Junggesellinnenabschied. Heute Morgen habe ich rumtelefoniert, aber keine von ihren Freundinnen wusste, wo sie war. Sie hatten sie seit dem Club nicht mehr gesehen. Als ich bis Mittag immer noch nichts von ihr gehört hatte, wusste ich, dass etwas nicht stimmt.« Sie stieß den Rauch in einem einzigen stetigen Strom aus.
»Wir brauchen Namen, Miss Doherty«, sagte ich.
Claire Finley arbeitete bei derselben Zeitung wie Karen Doherty und nahm dort telefonisch Kleinanzeigen auf. Nun saß sie in der Personalküche, rauchte eine Zigarette und trank eine große Tasse Tee. Williams saß neben ihr und hatte den Arm um sie gelegt. Wir erkannten Claires Gesicht als das auf dem Top wieder, das Karen getragen hatte. Die junge Frau hätte sich auf ihre bevorstehende Hochzeit freuen sollen, stattdessen betrauerte sie nun den Tod einer Freundin. Und machte sich Vorwürfe.
»Wir hätten nicht einfach gehen dürfen. Das wusste ich. Aber ich wollte nach Hause«, sagte sie und sah uns flehend an in der Hoffnung, wir würden verständnisvoll nicken und sie so ein wenig beruhigen. »Verstehen Sie? Ich musste doch früh aufstehen und zur Arbeit gehen. Ich wollte nach Hause.«
Claire erklärte uns, dass sie und fünf Freundinnen, darunter auch Karen, nach Letterkenny gefahren waren, um ihren Junggesellinnenabschied zu feiern. Sie hatten zunächst in einem Restaurant etwas gegessen und waren dann in den Club Manhattan gegangen. Eine nach der anderen hatten ihre Freundinnen Männer kennengelernt. Karen habe sie aus den Augen verloren.
Als sie sich später wieder treffen wollten, hatten Karen und ein anderes Mädchen, Julie, gefehlt. Julie hatte einer der anderen eine SMS geschickt, sie habe »einen Typ aufgerissen« und würde keine Mitfahrgelegenheit benötigen. Von Karen hatte niemand etwas gehört. Sie hatten etwa fünf Minuten auf sie gewartet und dann angenommen, sie habe ebenfalls jemanden kennengelernt, also waren sie nach Hause gefahren. Am Morgen hatte Karens Schwester Agnes angerufen und nach Karen gefragt. Da hatte Claire sich noch keine großen Sorgen gemacht – vielleicht schlief Karen ja noch irgendwo ihren Rausch aus. Doch als sie mittags immer noch nicht erschienen war oder sich telefonisch krankgemeldet hatte und inzwischen zwei Abgabetermine für Artikel verpasst hatte, telefonierte Claire ihre Freundinnen ab. Erst da stellte sich heraus, dass sie nicht nach Strabane zurückgekehrt war.
»Sie haben sie mit niemandem zusammen gesehen?«, fragte ich ein wenig ungläubig. »Den ganzen Abend nicht, nicht einmal?«
»Nein, ich … ich …«, setzte Claire an, doch dann sprudelten zum dritten Mal seit unserer Ankunft die Tränen. Claire blickte Williams an, den Kopf ein wenig schräg gelegt. »Bitte …«, brachte sie hervor.
»Vielleicht könnten Sie Claire und mich ein paar Minuten allein lassen«, bat Williams und nickte in Richtung Tür.
Hendry und ich gingen hinaus auf die Straße und nutzten die Gelegenheit zu einer Zigarette.
»Tja, was meinen Sie?«, fragte Hendry.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Jim. Der Bericht der Gerichtsmedizinerin sollte heute Abend vorliegen. Der Tatort weist eine Menge Ungereimtheiten auf … verschlossene Türen, unbenutzte Kondome …«
»Wenn wir was tun können, lassen Sie es uns einfach wissen, Ben.«
»Jemand müsste mit den übrigen Teilnehmerinnen am Junggesellinnenabschied sprechen. Könnten Sie sich hier darum kümmern?«
»Kein Problem. Halten Sie uns auf dem Laufenden über das, was auf Ihrer Seite
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