Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
geboren ist,
ist dem großen Gott begegnet!
Und auch Du seist gottgesegnet,
wenn Du folgsam, schweigsam bist.
Eigentlich möchte ich folgsam, schweigsam auf dem Absatz kehrtmachen, Has und Rebhuhn vergessen und meine Schritte zurück nach Hamburg lenken. Aber was soll’s. Lotte hat sich noch nie geirrt, und ihr zuliebe will ich mich auf diesen Weg der Sinne einlassen.
Ich stapfe also bergauf immer tiefer in den Wald, vorbei an einer Quelle und weiteren, seltsamen Schildern, stecke meine Kopfhörer in die Ohren und tauche ab. Musik ist meine Droge. Sie verkürzt die Zeit, sie übertönt den Tinnitus, sie treibt mich an, sie öffnet das Herz und verknüpft die Innenwelt mit der äußeren. Beim Wandern höre ich gerne Film-Soundtracks, die Hymnen der großen Helden aus Hollywood, und es dauert nicht lang, bis ich selbst Lawrence von Arabien, Highlander oder Braveheart bin. So habe ich mich unterwegs noch nie gelangweilt. Warum auch? Ich gehe nicht nur nach Canossa, ich kämpfe auch für die Freiheit Schottlands und warte begierig darauf, dass ein Unsterblicher mit seinem Langschwert aus dem Dickicht springt. Schließlich kann es nur einen geben. Über den Rothaarsteig laufe ich als der letzte Mohikaner, das finde ich passend. Ich bin tatsächlich weit und breit das einzige Lebewesen, nicht mal ein Rebhuhn flattert mir über den Weg, von Jungwild oder Rothaarsteig-Meuchelmördern keine Spur. Ausgezeichnet.
In meiner fragwürdigen Borderline-Stimmung ist Einsamkeit genau richtig. Nur die Sonne begleitet mich. Bald wird mir so warm, dass ich meine Fleecejacke im Rucksack verstaue und im T-Shirt durch den März stiefle. Wollen wir wetten, dass es in Hamburg gerade regnet? Leider verleitet die dramatische Musik dazu, sich völlig zu überschätzen. Wie ein Indianer sprinte ich das Gebirge hoch, mal wieder ohne Pause, Sinn und Verstand. Vielleicht liegt es auch daran, dass mir diese Landschaft so unwirklich vorkommt. Ich fühle mich wie ein Grundschüler im Märchenwald von Melle bei Osnabrück. Auf der Anhöhe stehen ganz bestimmt die sieben Zwerge und ein Goldesel, es gibt Pommes und Sunkist-Trinkpäckchen, dann düse ich mit der Sommerrodelbahn zurück ins Tal, und Mutti holt mich ab.
Die Spitzen meiner Schuhe sind feucht, als ich oben ankomme. Aus meinen Haaren fließt ein Bach, er läuft von der Stirn quer durch mein Gesicht und tropft vom Kinn auf den Boden. Ich befreie Fritzchen mit Ei aus seiner Papiertüte, und wir beide blicken ein letztes Mal zurück auf die Stadt.
Die Briloner leiden offenbar unter einer Art Kontrollzwang. Man könnte sie mit Fug und Recht neurotisch nennen, da möchte ich keinen ausnehmen. Seit dem Mittelalter gibt es hier einen merkwürdigen Brauch, den Schnadezug. Alle zwei Jahre versammeln sich die Bürger auf dem Marktplatz und laufen zu Blasmusik im Gänsemarsch die Stadtgrenze ab. Ganz gewissenhaft und penibel. Egal, ob ein Bach, ein Berg oder ein Bär im Weg ist, es geht immer stumpf an der Grenze entlang. An jedem großen Markstein macht der Zug halt. Die Schützenbrüder berühren das Symbol mit ihren Degen und schwören, ihre Stadt bis zum letzten Schnaps zu verteidigen. Sie schwenken Flaggen, legen Blumensträuße ab, und dann wird es für bestimmte Personen an diesem besonderen Tag unangenehm. Jeweils vier Mann packen die Jugendlichen und die Neu-Briloner an Armen und Beinen und ziehen sie mit dem Hintern dreimal über den Grenzstein. Oder auf Deutsch: Sie schlagen die armen Seelen kräftig mit dem Popo gegen den harten Fels. Ob sich dabei schon mal jemand das Steißbein gebrochen hat, ist nicht überliefert, der Grund für das Ritual allerdings schon. Früher nahmen es die Nachbardörfer mit den Grenzen nicht so genau. Nachts versetzten sie heimlich die Steine und stahlen peu à peu eine Menge Land. Um das zu verhindern, zog man mit den jungen Leuten regelmäßig vor die Stadt und gab ihnen an jeder Markierung eine schallende Ohrfeige, damit sie niemals, niemals wieder die Lage der Steine vergaßen.
«Ich werde wegen eines Baumes doch nicht den ganzen Wald verachten», pflegte mein Opa immer zu sagen. Aber wo sind Wald und Bäume eigentlich hin? Es ist, als würde ich auf riesige schlafende Igel blicken. Die Hügel vor mir sind mit abgebrochenen Stämmen und toten grauen Stümpfen übersät. Dazwischen liegen Äste verstreut im spitzen braunen Gras. Vierzehn nackte Fichtenstämme stehen aufrecht mitten im Nichts. Ihre Spitzen sind ineinander verschränkt wie ein Bündel aus
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