Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
um ihn herum zeigen Schwerter. Lange, stählerne, messerscharfe Klingen, und ein paar Münzen. «Was bedeutet denn das Geld?», flüstere ich, während Lottes Blick noch immer starr auf die Karten gerichtet ist. Sie winkt ab. «Ach, ich schätze, dir wird die Kohle ausgehen. Aber das ist nicht das Problem …» Lotte öffnet den Mund, als wolle sie einen Satz beginnen, dann schließt sie die Lippen wieder. Das Orakel nimmt einen tiefen Zug und bläst Rauch über die Tischdecke.
«Dennis, was du dir da vorgenommen hast … Wie soll ich es dir sagen?»
Lotte atmet aus und verhüllt das Blatt mit einem Schleier. Offenbar erwacht sie aus ihrer Trance, denn nun fixiert sie mich und sieht direkt in meine Seele.
«Du bist nicht Joey Kelly.»
«Wie meinst du das?»
«Ich sag es dir mal ganz deutlich: Diesen Gang nach Canossa, den packst du nicht. Niemals. Du bringst dich gerade um, und das weißt du auch.»
Ich finde keine Worte und überlasse meinem Unterbewusstsein das Reden.
«Schätzecken, du willst dir und der Welt gerade beweisen, dass du keine Lusche bist. Du bestrafst dich selbst. Dabei musst du eigentlich lernen, gnädiger mit dir zu sein.»
«Gnädiger?»
«Nimm mal die Straßenbahn! Glaubst du etwa, dieser olle König ist den ganzen Weg nach Canossa gelatscht? Seine Hoheit hat sich tragen lassen, was denkst du denn?»
«Aber ich habe gelesen, dass …»
«Gott, wie naiv kann man sein. Und ich sag dir noch was: Die Alpen sind dein Problem. Du kommst nicht allein über die Alpen. Niemals. Dennis, wie alt bist du jetzt? Sechsunddreißig?»
«Ich werde vierunddreißig.»
«Mit vierunddreißig muss man sich mal entscheiden, was man vom Leben will. Im Moment hast du Chaos im Kopf, du bist völlig konfus. Du stiefelst nach Canossa, weißt aber nicht, warum. Werde erwachsen, mein Freund. Pass auf: Geh mal in dich und denk an die fünf Menschen in deinem Leben, die du am meisten liebst.»
Meine fünf Favoriten. Für ein paar Sekunden schließe ich die Augen und lasse die Chartshow meines Lebens ablaufen.
«Sind dir fünf eingefallen?»
«Ja, schon.»
«Und, bist du selbst in den Top Five?»
Ich lächle.
«Siehst du? Das ist der Punkt. Wenn du ehrlich bist, dann hast du doch eine Scheißmeinung von dir selbst. Wie sollen wir es nennen? Depression? Nee, dann halten dich alle für bekloppt. Burn-out? Ja, klingt besser und ist gerade in Mode. Mir gefällt ‹Burn-out mit Hörsturz›. Da werden dich alle furchtbar bemitleiden, meinst du nicht auch? Junge, du bist ein Aushalter, du öffnest dich nicht, du unterdrückst. Was dich quält, sind deine ungeweinten Tränen. Und ich verspreche dir eins: Die wirst du auf deinem Gang nach Canossa vergießen.»
Wenig später sitze ich in einem silbergrauen Kombi. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch, Tropfen laufen über die Scheiben, und Lotte erzählt ohne Atempause von ihren hochbegabten Enkeln, die so geschwollen daherreden wie Professoren und ihr schrecklich auf die Nerven gehen. Natürlich ist ihr bewusst, dass ich überhaupt nicht zuhöre, aber sie tut mir einen Gefallen. Lotte füllt die Fahrerkabine bis zum Rand mit Worten, damit wir nicht über das reden müssen, was gerade in meinem Herzen passiert. Der Wagen rollt über die Landstraße nach Süden, und ich bleibe für den Rest des Tages stumm. Schicksal, nimm deinen Lauf.
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Kapitel 5
Seelen in der Fleischauslage
(Auf dem Rothaarsteig)
B rilon, wie das schon klingt. So nennt man Spülmaschinen-Tabs oder vielleicht Nasensprays, aber doch keine Stadt. Und wenn es nur der Name wäre. Ich fühle mich, als sei ich im Innern einer Kuckucksuhr gefangen. In Brilon gibt es noch Schieferdächer, Fachwerkhäuser, Pfadfinder und Pfeifenraucher, die Brötchen in der Auslage heißen «Fritzchen mit Käse» und «Fritzchen mit Ei», einzig der Friseur «Hairkiller» fällt aus dem kleinbürgerlichen Rahmen. Und auf jedem Zentimeter Grün steht seit den fünfziger Jahren dasselbe Schild: «Schont unsere Anlagen! Nicht erlaubt sind Hunde, Fußballspielen, Fahrradfahren und Blumenpflücken! Der Stadtdirektor.» Birgit Schrowange und Friedrich Merz stammen aus Brilon, und Heinrich Lübke ist hier zur Schule gegangen. Der Landwirtschaftsminister und spätere Bundespräsident, über den man sagte, er komme nicht vom Humanismus wie sein Vorgänger Theodor Heuss, sondern vom Humus. Muss ich noch mehr über Brilon erzählen?
Ich weiß auch nicht, warum ich so aggressiv bin. So kann ich mich selbst
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