Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
monströsen Mikadostäbchen, ihre Füße in den Boden betoniert. Das Mahnmal erinnert an den verheerenden Orkan Kyrill, der allein in Brilon über eintausend Hektar Wald umblies. Und zwar in einer Nacht. Er riss die Fichten aus dem Boden oder brach sie ab wie Zahnstocher. Auf einem Kubikmeter übereinandergeschichtet, hätte das gerodete Holz zweimal um den gesamten Erdball gereicht. Diese Gegend ist irgendwie surreal, sie könnte ein Filmset aus «Planet der Affen» sein.
Es wird ein langer Tag. Denn so wie die Briloner Bürger stoisch ihrer Grenze ins Verderben folgen, führt auch der Rothaarsteig einfach mitten durch die Karpaten. Man kann einen Berg behutsam und kräfteschonend besteigen, zum Beispiel in Serpentinen oder im leichten Zickzack. Theoretisch kann man auch um ihn herumlaufen. Dieser Wanderweg aber kennt keine Gnade. Er führt einfach auf geradem Weg die Steigung rauf, bis die Unterschenkel krampfen und die Äderchen in den Augen platzen. Auf der anderen Seite des Hügels geht es genauso steil wieder abwärts, und dann folgt auch schon der nächste Anstieg. Dieses Spiel dauert bis zum Abend, und ich liebe es. Endlich kann ich mich austoben. Der Kopf schaltet ab, es geht nur noch ums Vorankommen.
Meine Capri-Sonne ist leer, und ich habe Fritzchen mit Käse, Fritzchen mit Ei und Fritzchen mit was weiß ich was schon lange ermordet. Die Sonne steht tief, mir wird kalt, und ich blättere in meinem Prospekt «110 Qualitätsbetriebe auf dem Rothaarsteig zum Einkehren und Übernachten». Ein Gasthof in Bruchhausen hat geöffnet, allerdings spricht der Wirt am Telefon einen sonderbaren Akzent.
«Wann wiiirse denn hiiier sein, Juuunge?»
«Hm, so in einer halben Stunde?»
«Iiis klar, mach dich auffe Socken, ne. Biiis gleich.»
Tatsächlich dauert es zweieinhalb Stunden, bis ich das kleine Dorf erreiche. Der Abstieg durch den Wald zieht sich endlos, und meine Fußsohlen machen so langsam nicht mehr mit. Es ist schon dunkel, als ich ankomme. Ich klingele, jemand öffnet die Tür, und ich sehe nach oben. Meine Güte, der Wirt ist über zwei Meter groß, sein Kiefer ist eine Baggerschaufel, mit seinem Schnauzer könnte man ganze Täler bedecken. «Tach! Biiise der einsame Wandersmann? Nu ziiieh ma die Schuhe aus, ich zeich dir deine Falle.»
Es riecht etwas muffig und feucht wie in einer Alte-Leute-Wohnung. Auf dem blauen PVC-Boden liegt ein beigebrauner Läufer, im Flur stehen Milchkannen, ein alter Sägebock, eine Truhe und Kommoden aus dunklem Holz: Eiche brutal. Die weißen Tapeten sind mit Fotos von Füchsen, Eulen, Fasanen und Mardern dekoriert, sogar ein Hirsch röhrt an der Wand. Ich folge dem Wirt eine Treppe hinauf, und oben setzt sich das erlesene Sammelsurium nahtlos fort. Eine Glasvitrine mit Märklin-Eisenbahnen, eine Standuhr, ein alter Nachttopf und ein geschnitztes Schild, an dem ein kleiner Stein baumelt:
Barometer der echten Bruchhauser
Stein trocken: Sonne
Stein nass: Regen
Stein unsichtbar: Nebel
Stein weiß: Schnee
Stein bewegt sich: Sturm
Stein heruntergefallen: Erdbeben
Natürlich lässt sich der Wirt nicht lumpen. Als einziger Gast des Hauses bekomme ich selbstverständlich ein Doppelzimmer. Es besteht vor allem aus einem großen Eichenschrank, der allerdings privat genutzt wird. Ganz obendrauf, in über zwei Meter Höhe, steht ein winziger Fernseher. Die Bettwäsche macht mir eine große Freude, denn sie ist aus Frottee. Wie sehr ich diesen Stoff doch liebe. Warum ist dieses wunderbare Material eigentlich so sehr aus der Mode geraten? Wenn ich etwas in meinem Leben sehnlichst vermisse, dann meinen türkisfarbenen Frottee-Schlafanzug. Auf der Brust war ein Bild von Alf, er hielt einen pinken Telefonhörer in der Hand und sagte «Null Problemo!». Auch der Rest des Abends in der Herberge erinnert mich an die heimeligen Achtziger. Der Riese brutzelt mir einen strammen Max, ich hätte sicher auch Toast Hawaii haben können, und gemeinsam schauen wir ein DFB-Pokalspiel: Greuther Fürth gegen Borussia Dortmund.
Am nächsten Morgen legt mir der Wirt eine Rolle Alufolie auf den Frühstückstisch. «Schmiiier dir ordentlich watt, damitte heute nich wiiieda schlapp machst auffem Rothaarsteich!» Spricht eigentlich jeder Sauerländer so? Und sind alle Sauerländer solche Kanten? Heute wirkt mein Gastgeber noch größer. Ein Mann wie eine Fichte. Wirklich beeindruckend.
«Juuunge, die Fiiichte hat ausgedient, weil sich dat mit den Stürmen immer mehr entwiiickelt. Weiße, dat sind
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