Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
nicht leiden. Irgendwie hat mich das Gespräch mit Lotte völlig aus der Bahn geworfen. Was bildet sich der Knallfrosch aus dem Kohlenpott eigentlich ein? Wie kann sie so über mich urteilen? Und dann fährt sie mich auch noch hierher. Nach Brilon. In das Epizentrum der Spießigkeit. Ein Deutschland, wie ich es nur aus Disneyland oder kitschigen Heimatfilmen kenne. Alles ist viel zu hübsch, viel zu aufgeräumt, viel zu sauber, und die Leute sind einfach viel zu nett. Gerade hat mir die Bäckerin einen «recht schönen Wandertag» gewünscht, und ein Herr an der Tür begann sogar zu dichten, als er meinen Rucksack sah: «An einem Frühlingsmorgen, da nimm den Wanderstab, es fallen deine Sorgen wie Nebel von dir ab.» Nein, nein, nein, ich könnte schreien.
«Das Sauerland wird dir guttun», hat Lotte mir zum Abschied gesagt, wir umarmten uns, und ich nahm mir ein Zimmer in der Altstadt für unschlagbare zwanzig Euro inklusive Frühstück. Es war okay, mal abgesehen davon, dass in der Schüssel des Etagenklos ein geklautes Straßenschild lag: Absolutes Halteverbot.
In der Nacht hatte ich einen bizarren Traum. Ich war Coach bei «Germany’s Next Topmodel», die Quoten sanken bedenklich, Heidi Klum rief an und verlangte, dass wir etwas Extremes machen. «Denk dir was aus, sonst bist du raus!», zickte sie, also lud ich die Mädchen in einen VW-Bus, fuhr sie in den Wald und ließ sie im Bikini mit wilden Wölfen posieren. Nicht alle überlebten das zweifelhafte Shooting unverletzt, aber noch nie hatte ProSieben so viele Zuschauer. Manchmal frage ich mich, welche Drogen mein Unterbewusstsein nimmt. Es stimmt ja, was Lotte sagt: In meinem Kopf herrscht Chaos.
Brilon ist ein Ort, der zum Weiterreisen einlädt. Und zwar ganz offiziell. Gleich hinter der Touristeninformation beginnt einer der angeblich aufregendsten Wanderwege Europas, der Rothaarsteig. Hundertfünfzig Kilometer über den Kamm des Rothaargebirges quer durch das Sauerland, über den Kahlen Asten und das Siegerland bis an den Rand des Westerwalds. Das emsige Stadtmarketing nennt den Trampelpfad «Weg der Sinne» und bewirbt ihn mit einfallsreichen Slogans: «Sieh dich nimmersatt! Höre die Stille! Entdecke deinen Weg!» Die Strecke sei eine «Wanderautobahn», was auch immer das sein soll, und locke jedes Jahr über eine Million Urlauber an. Allerdings wohl nur im Sommer, denn die Dame am Tresen (blond, Bluse, Halstuch) gratuliert mir – ich sei der allererste Wanderer auf dem Rothaarsteig in diesem Jahr.
Es geht alles ganz fix und kostet nix. Sie drückt mir eine Karte und einen Prospekt in die Hand: «110 Qualitätsbetriebe zum Einkehren und Übernachten». Die meisten seien jedoch noch geschlossen. Außerdem bekomme ich ein hübsches Werbegeschenk: «Mörderisches vom Rothaarsteig». Eine Sammlung von Krimigeschichten, in denen die Autoren ganz unauffällig die «fabelhafte Küche» der Gasthöfe und die «ausgezeichnete Beschilderung» der Pfade loben. Ansonsten liest man, wie die Wanderer auf dem Rothaarsteig erschlagen, erstochen, erschossen, zerstückelt und verscharrt werden. Ob so etwas Touristen anspricht?
Was die Navigation betrifft, kann ich den Kopf getrost abschalten. Von nun an folge ich einem geschwungenen, liegenden «R» für Rothaarsteig – weiß auf rotem Grund. Easy. Das Symbol klebt auf Stromkästen, Mülleimern und jeder zehnten Straßenlaterne. Es geht eine ganze Weile durch pittoreske Schiefer-Fachwerk-Holzgiebel-Gassen bergab, einmal nach rechts, zweimal nach links, und plötzlich stehe ich unter den höchsten Tannen, die ich je zuvor gesehen habe. Genau genommen sind es Fichten. Ich mag mich täuschen, aber diese Riesen ragen gut und gerne zwanzig, dreißig Meter in den Himmel. Mein Gott, welchen Dünger verwenden die hier? Es muss gutes Zeug sein, denn Brilon soll den größten Stadtwald Deutschlands besitzen, fast achtzig Quadratkilometer.
Am Waldrand begrüßt mich der Sauerländische Gebirgsverein mit einem Schild. Noch ein Gedicht, es trägt den wunderbaren Titel «Freundlicher Hinweis»:
Lieber Wanderer! Eine Bitte!
Lenke möglichst Deine Schritte,
nicht zu weit vom Wege fort.
Du kannst hier vom Großstadt-Hasten,
nah am Wege ruhig rasten.
Aber heilig sei der Ort,
wo in stillen Waldesecken
Rehe, Has und Rebhuhn stecken!
Wo im März, zur Maienzeit,
Mutterwild mit Muttersorgen,
jeden Abend, jeden Morgen,
Friede sucht und Schweigsamkeit.
Laß Dich nie dazu verführen,
jemals Jungwild anzurühren!
Was im Wald
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