Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
alles Flachwurzler, die fall’n sofort um, wenn et bläst. Kannse diiich noch an Kyrill erinnern?»
«Jaja, der Orkan.»
«Riiichtiiich! Briiilon hat damals sechshunderttausend Festmeter Baum verloren. Ma zum Vergleich: Auf einen Schwerlaster passen dreißig Festmeter, dat is alles. Damals iiis der Holzpreis um dreißig, vierzig Prozent runtergefallen, und jetzt forsten se nur noch Nordmanntannen auf, diese ollen Weihnachtsbäume.»
«Viele holen sich ja auch künstliche Weihnachtsbäume.»
«Juuunge, manche holen siiich auch ’ne künstliche Frau! Und weiße, wat die macht? Die macht niiix. Die quietscht nur vor Vergnügen!»
«Gibt’s denn hier auch wilde Tiere?»
«Und wat für welche! Hiiirsche, Wiiildschweine, und jetzt ham se auf’m Rothaarsteich sogar Muffel ausgesetzt.»
«Muscheln?»
«Muffel!»
«Was?»
«Muffelwiiild!»
Der Wirt erklärt mir, ein Muffel sei so eine Art wolliger Widder aus Korsika. Sehr selten, sehr flink, äußerst scheu. Klingt nach Wolpertinger.
«Juuunge, Muffel wiiirse beim Wandern nich zu Gesiiicht bekommen. Aber pass auf, wenn dir ’ne Wiiildsau übern Wech spaziert, ne. Da kannse nur noch flitzen! Die Viiiecher werfen grad Frischlinge, da rennen se allet übern Haufen, watt ihnen ins Visiiier gerät! Dat is ’ne Plage, sach ich dir. Wenn da nachts so ’ne ganze Rotte kommt, dreht die ’n komplettes Feld auf links.»
Oh, wie schön. Ein dunkler Wald voller Bestien, und Rotkäppchen darf ganz allein hindurchwackeln. Ich stecke mir drei Wurstbrote ein, zwei Äpfel, ein gekochtes Ei und kaufe beim Krämer an der Ecke noch eine Packung Müsliriegel. Wenn ich schon sterben muss, dann wenigstens nicht hungrig. Der winzige Laden hat in Bruchhausen übrigens sein eigenes Straßenschild bekommen: «Zum Edeka-Geschäft». Das gefällt mir. Offenbar ist «Edeka» hier ein Synonym für Supermarkt, so wie Tempo für Taschentücher oder Uhu für Klebstoff.
Der Aufstieg beginnt direkt hinter der Dorfkappelle. Gestern hatte ich den ersten Sonnenbrand des Jahres, und auch heute ist keine Wolke am Himmel. Wieder komme ich so sehr ins Schwitzen, dass ich oben auf dem Berg eine Pause einlegen muss. Der ganze Weg ist perfekt durchdesignt. Alle zwei Kilometer stehen geschwungene Holzliegen in der Landschaft, die dem Rothaarsteig-R nachempfunden sind. Angeblich soll es hier sogar Ranger mit Cowboyhüten und olivgrüner Uniform geben, mir ist jedoch noch keiner begegnet. Ich will gerade mein Wurstbrot verputzen, da schnauft etwas im Unterholz. Ist es ein Hirsch? Ein Wildschwein? Vielleicht eine ganze Rotte? Mit schweren Schritten schleppt sich das Wesen den Berg hinauf, es ächzt, es stöhnt, seine Nüstern sind weit geöffnet, auf seinem haarlosen Schädel stehen große Schweißperlen. «Olli» setzt sich neben mich, und ich merke, dass wir beide derselben Spezies angehören. Wir sind Muffel. Ausgewachsene Sportmuffel.
Die Situation ist uns beiden etwas peinlich. Natürlich sind wir nicht auf diesen Berg geklettert, um zu quatschen. Ich möchte einfach nur stumpfsinnig einem «R» hinterherrennen und meine Musik hören, Olli folgt einem weißen «U» für «Uplandsteig». Es führt ihn rund um die Gemeinde Willingen. Für ein paar Kilometer jedoch verlaufen «U» und «R» parallel, da wäre es idiotisch, wenn wir nicht Seite an Seite wandern würden. Und so ist Olli der erste Mensch, der mich auf meiner Reise ein kleines Stück begleitet. Negativ formuliert: eine Zweckgemeinschaft. Positiv: eine Schicksalsgemeinschaft.
Wir reden eine ganze Weile über Fußball. In glorreichen Zweitligajahren war ich stolzer Besitzer einer Dauerkarte für den VfL Osnabrück, und auch Olli ist ein Fan, wir sind also Leidensgenossen. Er kommt aus Salzbergen und arbeitet in der Stadtsparkasse Rheine. Ich frage ihn, ob er nachts auf Landstraßen gelegentlich gegen Leitpfosten tritt. Er weiß aber nicht, worauf ich anspiele. Warum Olli wandert? Er wird bald fünfzig und möchte abnehmen. Außerdem verbrät er seinen letzten Urlaubstag des Vorjahres, und natürlich geht ihm der Job am Schalter auf die Nerven. Same old story: Olli wäre gerne etwas Anständiges geworden, aber sein Vater zwang ihn dazu, erst mal was Anständiges zu lernen. Mit dreißig wollte Olli ausbrechen, kündigte und machte einen Plattenladen auf. Doch Vinyl lag schon in den letzten Zügen, er ging pleite und heuerte kleinlaut wieder in der Filiale an. Seither macht er Dienst nach Vorschrift und wartet auf seine Rente. Wer so
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