Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
arbeitet, braucht kein Gefängnis mehr.
«Und wohin wanderst du?», fragt Olli.
«Nach Canossa.»
«Ne!», sagt er, und wir plaudern über Buße und die schlimmsten Sünder unserer Zeit. Der amoklaufende Norweger Anders Breivik verdiene die Todesstrafe, meint Olli, und ich muss kurz schlucken. Wer auf Kinder schieße, habe sein Recht auf Leben verwirkt. Nicht viel besser sei der Ex-Geschäftsführer von Arminia Bielefeld. Der sei ins Bordell gegangen, habe gepöbelt, geschlagen und nicht einmal gezahlt.
«Und hast du gehört», sagt Olli, «dass die Frau vom Wulff auch mal unter der roten Laterne gestanden hat?»
«Na ja, es gibt diese Gerüchte über einen Escort-Service …»
«Pass auf: Das war in Bielefeld. Ein Kumpel von mir weiß sogar, in welcher Straße und in welchem Puff die anschaffen ging.»
Eigentlich schlimm, wie die Leute über meine Verwandtschaft herziehen, denke ich mir. Noch viel schlimmer ist, dass wir es tatsächlich schaffen, uns zu verlaufen. Erst nach drei Kilometern bemerken wir, dass «U» und «R» von den Baumrinden und Steinen verschwunden sind. Wir laufen ein ganzes Stück zurück. Der Pfad führt quer durch eine Heidelandschaft, und manchmal schimmert noch etwas Schnee im blassen Violett.
Am frühen Nachmittag kehren wir in eine Berghütte ein, die sogar zu dieser Jahreszeit geöffnet hat. Bei Eintopf, Knackwurst und angeblich hausgemachtem Kartoffelsalat (nie im Leben!) erzählt Olli von einer wissenschaftlichen Sensation. Drüben in Hemmighausen hätten Archäologen Neandertalerknochen gefunden, und man habe die DNA der Urmenschen mit dem Erbgut der Leute im Dorf verglichen. Das erstaunliche Ergebnis: Die DNA der Neandertaler und die der Hemmighauser seien fast identisch. «Die sind also seit fünfhundert Generationen nicht aus ihrem Dorf rausgekommen», sagt er, und irgendwie erinnern mich die ewigen Hemmighauser an den ewigen Olli am Sparkassenschalter. Ich behalte diesen Gedanken für mich.
Nach fünfzehn Kilometern trennen sich «U» und «R», und zwei schnaubende Muffel reichen sich die Hand. Wehmütig sind wir nicht. Einerseits war es nett, mit jemandem zu sprechen. Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Andererseits sind wir beide froh, nun wieder allein zu sein. Allein mit unseren Gedanken. «Mein Lieber», sagt Olli, «ich wünsche dir noch viele nette Begleiter auf deinem Weg. Aber heute Nachmittag steige ich auf die Waage, und wenn ich nicht mindestens ein Kilo verloren habe, wandere ich nie wieder!»
Olli muffelt zurück ins Unterholz, und ich verbringe die Nacht in einem bulgarisch geführten Hotel in Winterberg. Ansonsten ist das Örtchen fest in niederländischer Hand. Klar, für Holländer sind das hier die Alpen. Die Bewohner Winterbergs werden übrigens «Äggerfriäter» genannt, Eierfresser. Weil sie so gerne Soleier und Pfannkuchen mögen. Aber das nur am Rande.
Die Zeit auf dem Rothaarsteig ist ein Geschenk. Ich steige auf die Skisprungschanze von Winterberg, stiefle über Skulpturenpfade, wage mich todesmutig über Hängebrücken, und manchmal setze ich mich einfach ins Moos, meditiere und atme auf. Die Gedankenspaghetti verschwinden aus meinem Hirn, und nun habe ich endlich wieder Raum für Inspiration. Stundenlang philosophiere ich über die Flachwurzler des Lebens. Es ist doch eigentlich ganz einfach: Alles, was zu seichte Wurzeln schlägt, fällt eines Tages einfach um. Und alles, was zu stark wächst, wird irgendwann von seiner eigenen Masse erdrückt. Das ist auch gut so. Ohne Kyrill wäre der Rothaarsteig nicht halb so spektakulär. Manchmal kann ich durch die Schneisen, die der Sturm geschlagen hat, kilometerweit über die grünen Hobbit-Berge bis ans Ende der Welt sehen. Man muss eben gelegentlich einen Orkan entfachen, um dem Leben Weite zu geben.
In dem Örtchen Schanze gibt es nur eine Handvoll Wohnhäuser, aber gleich zwei Gasthöfe. Einen habe ich ganz für mich allein, die komplette Fachwerkhütte samt Garten. Der Wirt macht Ruhetag, aber ich kann mir die Schlüssel bei seiner Nachbarin abholen. Als wäre schon Hochsommer, sitze ich noch ewig im Freien, sehe in den Sonnenuntergang über der Skipiste und warte darauf, dass die Wölfe heulen. Ob sich Heinrich IV. auf seinem Gang nach Canossa auch so gehen lassen konnte? Oder war seine ganze Reise eine einzige, eiserne Qual?
Am nächsten Morgen blicke ich in den Spiegel und entdecke etwas Seltsames in meinem Gesicht. Einen Ausdruck, den ich seit Jahren nicht mehr darin gesehen habe:
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