Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Gefühl.
Von den Ohrstöpseln befreit, betrete ich das Herz der Kathedrale, den wahrscheinlich ältesten, ganz sicher aber gruseligsten Teil des Doms. Eine Steintreppe führt hinunter in die Krypta, diesen eiskalten Säulengang aus roten und weißen Elementen. Plötzlich dröhnen tiefe, dunkle, beinahe satanische Klänge durch die Hallen: Der Organist übt für die Ostermesse und ahnt nicht, welchen düsteren Soundtrack er dem Film verleiht, der gerade in meinem Innern abläuft. Ich bin ganz allein mit den Gräbern der salischen Könige und Kaiser. Sie alle bestanden darauf, einmal im Fundament des Doms bestattet zu werden, man sah sich schließlich als Stellvertreter Christi auf Erden. Heinrichs Grab ist schwer auszumachen. Er hat den schmucklosesten Sarg bekommen, den man sich vorstellen kann: Seine edlen Knochen lagern in einer grob gehauenen Totenkiste aus grauem Stein in der hintersten, linken Ecke der Krypta. Und sein Geist? Ist die Seele des mordenden, cholerischen, Frauen verbrauchenden Gotteslästerers im Himmel, in der Hölle, im Nirwana – oder womöglich noch hier in der Gruft?
Die Katholiken mögen zwar über Audioguides verfügen, glücklicherweise aber nicht über moderne Videotechnik. Und so gelingt es mir ganz unbemerkt, eine Wand hinaufzuklettern und die rechte Hand auf Heinrichs Sargplatte zu legen. Ich schließe die Augen. Unser Schicksal ist jetzt verbunden, alter Junge. Ich nehme dein Sünderherz noch einmal mit nach Canossa. Und wenn du mich hören kannst, dann gib mir irgendwann auf unserer gemeinsamen Reise ein Zeichen.
Zurück in der Frühlingsonne, reibe ich meine Handflächen aneinander. Die linke ist wie immer, die rechte bleibt eiskalt. Es fühlt sich an, als hätte ich einen Toten geweckt. Oder ist Heinrich vom alljährlichen Oster-Overkill in Speyer erwacht? Zugegeben, ich bin ein leidenschaftlicher Hobby-Blasphemiker, ungetauft und auch noch unehelich geboren, trotzdem war mir der christliche Glaube eigentlich immer nah. Zum Leidwesen meiner Umwelt wusste ich bereits mit acht Jahren alle relevanten evangelischen Kirchenlieder auswendig, ich konnte die Kinderbibel aus dem Kopf rezitieren, und wenn ich bei meiner Großmutter übernachtete, dann betete sie an meinem Bett und sang «Will Satan uns verschlingen, dann lass die Englein singen». Zu Ostern habe ich sogar mal ein merkwürdiges Gedicht in der Osnabrücker Bonnuskirche vorgetragen: «Habt ihr schon Hausputz gemacht? Wenn Jesus kommt, muss doch alles stimmen, alles in Ordnung sein!» Das fand ich nicht schlimm.
Was dagegen die Katholiken in Speyer rund um Ostern veranstalten, ist schon etwas befremdlich. Am Gründonnerstag hat der Bischof dem Kirchenvorstand vor der Gemeinde die Füße gewaschen, und manche fragten sich: Warum nicht gleich den Kopf? Am Karfreitag mussten sogar die Kinder dran glauben und frühmorgens in der Kathedrale den Kreuzweg Jesu Christi nachstellen. Und heute, am Ostersamstag, kulminiert der christliche Frohsinn in einer dreistündigen Marathon-Messe.
Der Dom ist zum Bersten voll, die gemütlichen Pfälzer haben die wackeligen Notsitze aus den Kirchenbänken gezogen oder hocken auf den Mauervorsprüngen am Fuß der Säulen. Es fängt ganz harmlos an. Draußen knistert ein Osterfeuer, drinnen ist es dunkel und andächtig still, die feierliche Prozession beginnt. Der Bischof und seine Messdiener tragen die große schneeweiße Osterkerze in den Dom und verteilen ihr Licht behutsam an die Gläubigen. Das hat etwas Erhebendes, bis hierhin ist die Nacht wunderbar. Doch es folgen drei Lesungen, fünf Gebete und sieben Lieder, bevor in der Allerheiligen-Litanei mindestens einhundert Heilige und Selige gepriesen werden, eine nie enden wollende, monoton hypnotisierende Dauerschleife im Zusammenspiel von Vorsänger und Gemeinde:
Heilige Maria, Mutter Gottes – Bitte für uns!
Heiliger Abraham – Bitte für uns!
Heiliger Mose – Bitte für uns!
Heiliger Josef – Bitte für uns!
Heiliger Petrus – Bitte für uns!
Nach der heiligen Agnes, der heiligen Klara und dem heiligen Hieronymus bespritzt der Bischof die Gemeinde mit heiligem Taufwasser und verfehlt mich nur knapp.
Zum Höhepunkt holen sie eine Dreißigjährige im blütenweißen Gewand auf die Bühne, die uns der Zeremonienmeister als «Frau Antje Birgit» vorstellt. Nun wird Frau Antje Birgit vor unser aller Augen getauft, gefirmt und immer wieder besungen. Sie muss Satan widersagen und spricht kraftvoll und im allerbreitesten Pfälzisch die
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