Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
vor.
«Sie hätten mich mal vor zwanzig Jahren sehen sollen! Da sprach ich nur gebrochen Deutsch, trug eine Lederkluft, hatte lange Haare und miserablen Umgang.»
«Sie waren bei den Hells Angels?»
Jetzt kriegt er sich kaum noch ein vor Lachen, und ich frage ihn, wie er zu den Zeugen Jehovas gekommen sei. Die Antwort ist kryptisch. Er sagt, seine Frau hätte «was Schlechtes gemacht», daraufhin habe er in der Heiligen Schrift nachgeschaut, ob er sich scheiden lassen könnte.
Ich blättere in der Jehova-Bibel. Im Appendix ist tatsächlich ein Vermerk zum Thema Ehebruch. «Porneia», die Unzucht, sei der einzige biblisch verbürgte Grund für die Annullierung einer Ehe.
Auch der Redner hat sich für diesen besonderen Tag eine gewagte Farbkombination zurechtgelegt. Er betritt in glänzend grauem Sakko, violettem Hemd und mit babyblauer Krawatte die Bühne, auf der ein hölzernes Pult, ein Strauß Kunstblumen und ein verwaister Esstisch mit Stühlen stehen. Der ältere, etwas knorrige Herr entdeckt mich sofort in der Menge und fixiert mich schon bei seinen einleitenden Worten. Von Herzen begrüße er die Gemeinde, ganz besonders die neuen Gesichter (damit meint er mich) und auch die «Zugeschalteten zu Hause an den Telefonen». Letztere allerdings ermahnt er im gleichen Atemzug. Mit erhobenem Zeigefinger verkündet er, es sei nicht ratsam, den Zusammenkünften fernzubleiben. Da könne man sich schnell vom Glauben entfernen. «Wie heißt es in Petrus eins, Vers zwei, Absatz fünfundzwanzig …»
Jetzt blättern alle in ihrer Jehova-Bibel, und ich wische bündelweise Seiten von rechts nach links, bis eine Frau mit gepunktetem Rock und leicht transparenter Bluse ganz eng an mich heranrückt. In Windeseile findet sie für mich die richtige Stelle.
«… denn ihr seid wie Schafe gewesen, die irregingen, ihr habt jetzt aber zu dem Hirten und Aufseher eurer Seelen zurückgefunden.»
Von nun an weicht die gepunktete Dame nicht mehr von meiner Seite, und der bunte Redner kommt zu seiner entscheidenden Frage: «Ist es schon später, als wir denken?»
Er macht eine lange rhetorische Pause, schielt ernst über den Rand seiner Brille und wiederholt: «Ist es schon später, als wir denken?» Nach einer weiteren Pause schiebt er nach, dass nicht er diese Problematik aufgeworfen habe. Überall auf der Welt würden gerade Vorträge zu diesem Thema gehalten. Damit möchte der Redner vermutlich die Bedeutung der Frage unterstreichen – es wirkt aber eher so, als werbe er um Verständnis für seine Ratlosigkeit. Dann versucht er sich an einer Antwort.
«Natürlich ist es später, als wir denken! Es ist schon viel später! Wir lesen in Matthäus dreiundzwanzig, Vers vierundzwanzig, Absatz vier …»
Das Bibel-Bingo geht in die zweite Runde. «Darf ich helfen?», fragt Pünktchen, nun halb auf mir sitzend. Sie flitzt mit spitzen Fingern durch die Seiten und reicht mir freundlich lächelnd das mustergültig aufgeschlagene Buch Gottes.
«Und Jesus gab ihnen zur Antwort: Ihr werdet von Kriegen und Kriegsberichten hören, seht zu, dass ihr nicht erschreckt. Denn diese Dinge müssen geschehen. Nation wird sich gegen Nation erheben und Königreich gegen Königreich, und es wird Lebensmittelknappheit und Erdbeben an einem Ort nach dem anderen geben.»
Nun fabuliert der Referent von Syrien, Afghanistan und dem drohenden Iran-Konflikt. Man müsse nur die Zeichen erkennen. Jeder könne sehen, dass das Ende der Welt nah sei. «Ja, liebe Freunde! Es reicht doch ein Blick nach draußen auf die dunklen Wolken und die schweren Stürme in den letzten Monaten, um zu begreifen: Das Armageddon naht!» Ich sehe aus dem Fenster. Eigentlich ist es ein windstiller, sonniger Tag. Doch der Redner liefert noch weitere, überzeugendere Argumente für seine These, unter anderem führt er die Erdbeben der Jahre 2006 bis 2010 ins Feld. Fukushima ist ihm offenbar nicht groß aufgefallen.
«Vor genau einhundert Jahren», fährt er fort, «ist die Titanic untergegangen. Man wusste von den Eisbergen, trotzdem ist die Crew mit voller Fahrt darauf zugerast. Und im Jahre 1902 sind beim Ausbruch des Vulkans Mont Pelé auf Martinique fast alle Einwohner der Stadt Saint-Pierre ums Leben gekommen. Die Menschen wussten, wie gefährlich der Berg war, haben aber einfach ausgeharrt und nichts getan. Genau so rast doch die gesamte Menschheit sehenden Auges auf ihre Vernichtung zu!»
Wie diese Vernichtung vonstattengehen soll? Die Zeugen Jehovas prophezeien verheerende
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