Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
einer Antwort anheben will, redet Rolf einfach weiter. Trotzdem mag ich ihn. Rolf hat das lustigste Pferdegrinsen der Pfalz, die weißesten Zähne der Weinstraße und die dichteste Minipli zwischen Mosel und Mittelrhein. Ein wenig erinnert er mich an die smarte Las-Vegas-Legende Paul Anka. Außerdem, und das ist wirklich bemerkenswert, wirkt Rolf so sportlich und agil wie ein Zwanzigjähriger. Dabei ist er fast siebzig. Wein konserviert.
«Ich muss immer schwätze», schwätzt Rolf. «Wenn ich net schwätze kann, werde ich krank.»
«Und warum das Geschwätz?»
«Ajooh, ich war viel im Außendienst tätig!»
Das erklärt alles. Rolf hat Bäder gebaut, er war Innenarchitekt. Erst Küchen, dann Metzgereien und dann eben Bäder. Denn Bäder bauen, sagt Rolf, sei höhere Psychologie.
«Ich musste nur eine Minute mit den Kunden schwätzen, dann wusste ich: Mit dem funkt’s und mit dem überhaupt nicht. Da kamen Leute in mein Geschäft, das waren solche Dappschädel. Die haben gesagt: Tach, wir wollen eine Badewanne kaufen. Und ich: Na wunderbar, dann setzen Sie sich mal rein! Und die wieder: Och nö, ich weiß nicht, ich mag nicht. Und mein Mann, der schafft das auch nicht mehr. Das waren solche Driggeberger. Die Leuten brauchten keine Badewanne, die brauchten einen Sarg!»
Doch Rolf hatte auch lebhaftere Kunden, manche ließen ihm beim Nasszellenzimmern sogar völlig freie Hand. Zum Dank gab’s WC und Bidet billiger: Rolf schaffte schwarz und ließ sich die letzten zwanzigtausend Mark immer «cash auf die Hand» auszahlen. «Ajooh, das hat mir gut getan», sagt er, «auch wenn ich deswegen heute weniger Rente bekomme. Aber das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken. In Dürkheim gibt es übrigens das größte Weinfass der Welt, wusstest du das?»
Ich bin schon ganz besoffen von Rolfs Monolog, und endlich hat der Herrgott ein Einsehen. Unsere Gruppenleiter möchten, dass wir die nächste halbe Stunde alle schweigend, jeder für sich und in einigen Metern Abstand voneinander laufen. Rolf fügt sich irritiert und fährt seine Wanderstöcke aus: «Ajooh, die brauch ich, um mich den Berg hinaufzuschieben. Bis später, und verlauf dich nicht!»
In der Stille beginne ich die Dunkelheit zu lieben. Wenn die Augen nur noch Schatten sehen und alle Umrisse des Tages ineinanderfließen, wachsen andere Sinne über sich hinaus. Ich atme das Moos, den feuchten Lehmboden und das gewagte Aftershave meines Vordermanns, den die Finsternis manchmal für eine Sekunde freigibt und gleich wieder verschluckt. Die Nachtigall singt, der Kauz ruft, die Eule eult, und ich frage mich, woran ich mich am Ende meines Lebens wohl eher erinnern werde: an einen großartigen Tag oder an eine wunderbare Nacht? Ganz sicher vergesse ich diese hier nie, denn plötzlich zerfetzt ein Schrei die Besinnlichkeit. Mein Vordermann rennt auf mich zu, zwei andere gleich hinterher. Und ich? Ich schreie nicht. Ich renne auch nicht. Ich bleibe einfach stehen und grinse selig in mich hinein. Im Lichtkegel einer Taschenlampe habe ich gerade gesehen, worauf ich seit dem Rothaarsteig sehnsüchtig warte: eine Wildsau. So schnell sie vor uns aufgetaucht ist, verschwindet sie auch wieder.
Wir sammeln uns auf einer Lichtung, und alle Teilnehmer bekommen einen kleinen weißen Stein in die Hand. Er soll die Last symbolisieren, die jeder von uns zu tragen hat. Jetzt wird’s psychologisch. Die Aufgabe: Such dir einen abgeschiedenen Platz im Wald, deinen Platz, und denk darüber nach, was dich bedrückt, was du fürchtest und was du dir von Herzen wünschst. Das fällt mir nicht schwer. Ich stapfe, so weit es geht, ins Unterholz, lehne mich an einen Baum und schließe Augen und Hände zum Gebet. «Bitte, bitte, lieber Gott, befreie mich von den Schmerzen im linken Fuß. Und mach, dass mich der schwätzende Rolf in dieser Nacht und in diesem Wald nie, nie, niemals wiederfindet. Ich will auch immer artig sein.»
Es kommt, wie es kommen muss. Eine Viertelstunde später bilden vierunddreißig Männer einen Kreis, klopfen sich wie Gorillas auf die Hühnerbrust und rufen «Tschaaaaaaaaa!». Nun legen wir nacheinander unsere Steine in die Mitte und sprechen laut aus, welcher Last wir uns in diesem Moment sinnbildlich entledigen. Einer legt den Streit mit seiner Mutter ab, ein anderer die Ungeduld, ein dritter die ewigen Selbstzweifel, und bald blicken wir Hand in Hand auf einen Geröllhaufen aus Sorgen, Komplexen und anderem Psycho-Schrott. Ich lege noch meinen
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