Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
so dasitze, wandelt sich Müllers unendliche Wut in Galgenhumor. Er beginnt, laut zu lachen, und steckt auch uns damit an.
Auf dem Tisch liegen noch mehrere andere Dinge, die aus heutiger Sicht völlig lächerlich erscheinen: eine Garantie auf Lebenszeit von PIP und ein Zertifikat des TÜV Rheinland, der das Billig-Silikon geprüft und für gut befunden hat. Wie der stinkreiche falsche Doktor seinen Schwindel jahrelang vertuschen konnte und wer ihn geschützt hat, ist bislang nicht klar. Sicher ist nur: Viele haben fleißig mitverdient, vor allem die Schönheitschirurgen. Der weltweite Bedarf nach preiswerter Füllmasse ist gewaltig, und die Gier ist stärker als die Moral.
Schließlich entdecke ich etwas zwischen den Dokumenten, das unser Lachen erstickt. «Ja, so was lässt niemanden kalt», seufzt Herr Müller. Vor mir liegen Fotos, die man nicht länger als ein paar Sekunden ansehen kann. Sie zeigen, wie geplatzte Implantate mühselig aus dem Körper geschnitten werden. Das Silikon hat sich mit Fett, Gewebe und rohem Fleisch zu einer blutigen Masse verklumpt, es könnten Szenen aus einem Schlachthof sein.
«Würden Sie die erste Brustoperation noch einmal machen?», frage ich, und Alexandra lächelt verlegen.
«Uhhhh … je ne sais pas. Das weiß ich wirklich nicht. Um ehrlich zu sein: Eigentlich waren es vier OPs.»
«Vier?»
«Ja. Die erste hatte ich schon 2008, sie lief nicht gut. Bei der zweiten bekam ich PIP-Implantate. Bei der dritten wurden sie ersetzt, doch es gab wieder Komplikationen – und noch eine vierte Operation. Für jede haben wir etwa dreitausend Euro bezahlt.»
Und so steckt wohl das gesamte Ersparte der Familie Müller-Blachère in Alexandras Oberweite. Ich merke, dass alles gesagt und gefragt ist, und bitte darum, ein Foto machen zu dürfen. Natürlich darf ich. Alexandra setzt sich aufrecht an den Glastisch, nimmt das Implantat in die rechte Hand und legt denselben vorwurfsvollen Blick auf, den sie schon eintausend Mal für die Medien der Welt gemimt hat. Ich drücke ab, so wie die gesamte französische Presse, wie die Schweden und Chinesen, verabschiede mich und gehe zurück in den Regen. Es wird Zeit, sich vom Journalisten in mir zu entfernen.
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Kapitel 13
Die große Überquerung des Jura-Gebirges zu Fuß
(Pontarlier)
T ermine, Termine, Termine. So froh und munter das Weihnachtsfest auch war, Heinrich IV. konnte es nicht lange genießen. Schon am 27. Dezember raffte er seinen edlen Corpus wieder auf und zog durch das Königreich Burgund weiter nach Italien. Klar, er hatte es eilig, weil sein Ultimatum ablief. Es gab aber noch einen anderen Grund: Heinrich war in der Nähe von Genf mit seiner Schwiegermutter verabredet. Und die Schwiegermutter lässt auch ein König nicht warten. Mir ist allerdings völlig schleierhaft, auf welchem Weg er zu ihr gelangt ist. Immerhin liegen zwischen Besançon und Genf gut hundertfünfzig Kilometer, und die führen nicht durchs Flachland, sondern quer über das Jura-Gebirge. Gerade in der Nähe des Genfer Sees soll es besonders steil sein, manche Gipfel ragen über eintausendsiebenhundert Meter in den Himmel. Wie um alles in der Welt ist er da zu Fuß rübergekommen? In den historischen Texten ist diese Etappe ein weißer Fleck, die Quellen lassen mich im Stich.
Meine Hilflosigkeit treibt mich ins «Office de Tourisme», einen Glaskasten am Rand der Altstadt von Besançon. Gerade rechtzeitig schlüpfe ich hinein, denn mal wieder geht die Welt unter. Regen prasselt auf das Flachdach, und durch den Sturzbach, der die Scheiben hinabfließt, sehe ich verschwommen, wie die Menschen draußen bei Blitz und Donner durch Pfützen rennen. Wer sitzt jetzt im Aquarium, die oder ich? Jede Stadt, die was auf sich hält, hat heutzutage ihren Slogan: «München mag dich», «Bielefeld bewegt» oder «Ich komm zum Glück aus Osnabrück». Hier wirbt das lokale Marketing mit «Besançon, l’irrésistible» – die Unwiderstehliche. Nach meinen grenzwertigen Erfahrungen kann ich mir allerdings nichts Schöneres vorstellen, als dieses Regenloch so schnell wie möglich zu verlassen.
Die blonde Madame am Empfang erschrickt, als ich sie anspreche. Offenbar hat niemand in der Touristeninformation mit Besuch gerechnet. Vielleicht fragt sie sich, warum mich die lieblosen Regale mit den Prospekten und die bedruckten Tassen nicht verjagt haben. Ich übertreibe nicht, es macht wirklich den Eindruck, als sei ich der erste Mensch, der diesen Ort
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