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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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und Kirche für immer auseinandergedriftet. Man muss sich das mal vorstellen: Zum ersten Mal unterwirft sich ein König einem geistlichen Oberhaupt. Bis dahin glaubten die Leute noch, ihr Herrscher sei direkt aus den Wolken gestiegen. Jetzt wurde plötzlich klar: Hoppla, der König besteht auch nur aus Fleisch, Blut und Fett.
    Das ZDF hat Weinfurter bekannt gemacht – vor ein paar Jahren beriet er die Autoren der Doku-Reihe «Die Deutschen» und trat darin als jovialer väterlicher Stichwortgeber auf. Sein Stil ist amerikanisch: Er redet nicht in akademischen Chiffren, sondern bringt die Dinge pointiert in wenigen Sekunden auf den Punkt. Ein Traum für Fernsehleute. Natürlich ist der Historiker unheimlich viel unterwegs, das ist das Herrliche an seinem Beruf: Forschungssemester, Gastprofessuren in fernen Ländern, Fernsehauftritte. Beneidenswert. Auch die Profs an meiner Uni in Hamburg schienen sich auf einer lebenslangen, aufregenden Expedition zu befinden. Ihre Sprechstunden legten sie immer auf den Freitag, weil sie wussten, dass dann keiner kommt. An diesem Tag waren die meisten Studenten schon auf dem Weg ins Heimatwochenende, da schließe ich mich nicht aus.
    Heute aber ist mein Lucky Day, die Sekretärin des Lehrstuhls für mittelalterliche Geschichte stellt mich zu Professor Weinfurter durch. Seine Stimme wirkt auf mich so vertraut, als spräche ich mit meinem Großvater im Jenseits. Weinfurter bedauert, dass er gerade auf dem Sprung nach Bologna sei und wirklich nur eine Sekunde Zeit habe. Ich fasse mich kurz.
    «Herr Weinfurter, halten Sie sich fest: Ich gehe nach Canossa! Von Speyer aus über die Alpen, genau wie Heinrich IV.! Und morgen überquere ich den Jura zu Fuß!»
    Die Koryphäe lacht.
    «Interessant, Herr Gastmann. Dann brauchen Sie als Allererstes ein Pferd.»
    «Wie meinen Sie das?»
    «Na, Heinrich ist nur geritten. Er ist nie zu Fuß gegangen, das ist eine Legende.»
    «Sie meinen: Der Gang nach Canossa war ein Ritt nach Canossa?»
    «Exakt. Aber ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Viel Glück und bis bald!»
    Der Professor bietet mir an, nächste Woche noch einmal ausführlicher zu telefonieren, doch alles ist gesagt. Mit nur einem Satz hat er meine Welt entzaubert. «Heinrich ist nur geritten» – der große Büßer ist also auf dem warmen Rücken eines Gauls nach Canossa gegondelt. Seine adligen Zehen berührten nur den Boden, wenn er mal austreten musste. Aber noch viel peinlicher ist, dass ich fast eintausend quälende Kilometer zu Fuß gegangen bin, um das herauszufinden. Was bin ich doch für ein miserabler Rechercheur. Und naiv noch dazu, Lotte hatte recht. Ich sollte mich aus Scham vom Stapel meiner vergeblich gekauften Wanderkarten stürzen.
    Irgendwie bin ich aber auch erleichtert. Der Regionalexpress von Bremen nach Delmenhorst, die Fahrt mit Lotte nach Brilon, der Ritt auf dem Rücken von Mobidoubs, all diese Sünden sind mir auf einen Schlag vergeben – Heinrich hätte es genauso gemacht. Oder noch schlimmer: Wahrscheinlich wäre er heute mit dem Privatjet nach Parma oder Reggio geflogen und hätte die letzten Kilometer bis zur Burg bei eisgekühlten Getränken im Fond einer Limousine zurückgelegt. So bin ich also der erste Mensch in der Geschichte, der den Gang nach Canossa tatsächlich auf Schusters Rappen geht.
    Und jetzt? Um ehrlich zu sein: Eine große Überquerung des Jura-Gebirges zu Ross, denke ich mir, wäre genau das Richtige. Zorro reitet, Winnetou reitet, Robin Hood hat sein ganzes Heldenleben nichts anderes getan. Allerdings gibt es ein Problem: Ich habe Angst vor Pferden. Grund dafür ist eine schmerzvolle Geschichte, auch sie spielt in meiner Kindheit und hat damit zu tun, dass meine Großmutter Anneliese eine sehr generöse, warmherzige Frau ist. Einmal spendete sie ein Kinderfahrrad aus unserem Großhandel für die Tombola des Landfrauenfestes. Dafür bekam sie ein Los. Wie der Zufall es wollte, zog sie einen der Hauptgewinne: ausgerechnet das Fahrrad. Einer anderen Frau passierte genau das Gleiche – sie hatte ein Pony gespendet und gewann es zurück. Die beiden tauschten ihre Preise aus.
    Nachmittags sprang meine Mutter aufgeregt ins Kinderzimmer. Sie bat mich, schnell ans Küchenfenster zu kommen – ich hatte gerade Windpocken und durfte nicht ins Freie. «Ein Geschenk! Oma hat ein großes Geschenk für dich, Lütti!», rief sie. Doch als ich durch das Fenster in den Garten blickte und das kleine schwarz-weiße Pony sah, fing ich bitterlich an zu

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