Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
betritt. Ich erzähle der Frau von meinem Dilemma. Dass ich zu Fuß unterwegs sei, irgendwie von Besançon nach Genf kommen müsse und einfach keinen Plan hätte, wie es weitergehen soll. Sie zieht ihre linke Augenbraue hoch. Erst denke ich, die Dame hätte mich nicht verstanden. Doch falsch, sie überlegt – und zwar eine ganze Weile. Dann erhebt sie sich wortlos aus ihrem Bürostuhl, fischt eine Landkarte aus dem Regal und breitet sie zwischen uns auf dem Tresen aus.
Jetzt wirkt sie nicht mehr lustlos, sondern streng und konzentriert. «Bon, Monsieur, Sie wissen schon, dass zwischen Besançon und Genf ein paar Berge liegen?» Ihre Hand fährt einmal quer über das Jura-Gebirge. «Also, im Grunde haben Sie drei Möglichkeiten: Entweder Sie machen einen großen Bogen und laufen einmal unten herum, das dauert aber ewig. Oder Sie laufen in gerader Linie über Champagnole auf den Jura zu und steigen dann einfach drüber. Das wäre der kürzeste Weg, aber er ist vermutlich viel zu steil.» Sie empfiehlt mir Variante drei: zunächst nach Südosten über Ornans nach Pontarlier, von dort aus einmal quer über den gesamten Jura-Gebirgskamm und dann der Abstieg Richtung Genf. «Monsieur, es ist zwar ein kleiner Umweg», gibt sie zu, «aber diese Strecke geht nur ganz langsam nach oben, und wenn Sie erst mal in Pontarlier sind, laufen Sie quasi über ein Plateau. Vor der Stadt beginnt ein sehr, sehr schöner Wanderweg, der GTJ. Warten Sie.»
Plötzlich ist sie ganz begeistert bei der Sache, als hätte ich sie aufgerüttelt. Wieder eilt die Frau zu ihrem Regal, kramt in den Prospekten, öffnet Klappen, nimmt etwas heraus und legt es wieder hinein. «Une minute!», ruft sie, «une minute!», verschwindet hektisch in einem Hinterzimmer, sucht auch dort und kehrt doch mit leeren Händen zurück. Sie sagt, ich solle mir unbedingt das Buch «GTJ – La Grande Traversée du Jura à Pied» besorgen, die große Überquerung des Jura-Gebirges zu Fuß. Das Standardwerk, die Bibel für Jura-Wanderer. Bedauerlicherweise habe sie ihr letztes Exemplar wohl schon vor einiger Zeit verkauft.
Damit weckt sie mein Abenteurerherz. Die große Überquerung des Jura-Gebirges zu Fuß – das klingt wunderbar, so wie die große Expedition von Alexander von Humboldt oder die große Überfahrt von Christoph Kolumbus. Große Helden auf großen gefährlichen Reisen habe ich schon als Kind geliebt: Odysseus gegen den Zyklopen, Käpt’n Ahab auf der Jagd nach Moby Dick, Ali Baba und die vierzig Räuber. All diese Geschichten erzählte mir mein kleiner flacher Panasonic-Kassettenrecorder in Graumetallic zum Einschlafen – immer und immer wieder. Jeden Abend reiste ich als kleiner Muck durch Tausendundeine Nacht. Ich pflanzte goldene Zauberbohnen und kletterte auf ihren Ranken in das Land der Riesen, ich fuhr mit Sindbad über die See, beschützte den Däumling im dunklen Wald und riss dem Teufel drei goldene Haare aus.
«Wie lange brauche ich denn für den GTJ? Gibt es da Herbergen, oder schläft man im Zelt?»
«Monsieur, das steht alles in dem Buch. Hier um die Ecke ist eine Bücherei.»
«Und wie komme ich von Besançon in dieses Pontarlier?»
«Das ist kein Problem, Monsieur, da gibt es sehr gut ausgeschilderte Schnellstraßen.»
«Kann ich denn auf denen laufen?»
«Mon dieu, nein!»
Die vierzig Räuber, der Zyklop und Moby Dick müssen also warten. Es ist mir etwas peinlich, als ich am nächsten Tag in den «Mobidoubs» steige, den großen weißen Überlandbus von Besançon Gare über Ornans nach Südosten. Dabei kann ich froh sein, dass er überhaupt fährt. Der Zettel an der Bustür informiert über einen «conflit social», es wird mal wieder gestreikt. «Pontarlier?», frage ich, und die Fahrerin hält den Daumen nach oben. «Yes, Monsieur! Pontarlier, yes!», ruft sie. «Money six Euro!» Offenbar ist mein ausländischer Akzent penetranter, als ich dachte. Außer mir steigt noch ein kleiner, dicker Junge zu. Er schiebt seinen Tornister in den Gepäckraum des weißen Wals, sagt «Salut» und quält sich auf seinen Sitz. Mobidoubs schnauft einmal kräftig durch, dann beginnen die ersten fünfzig Kilometer meiner großen Überquerung des Jura-Gebirges zu Fuß. Aus den Lautsprechern des Busradios klagt Michael Jackson «They don’t really care about us».
Was hätte ich tun sollen? Natürlich regnet es immer noch, und die Strecke nach Pontarlier ist – höflich gesagt – nicht gerade wanderfreundlich. Es führen tatsächlich fast nur
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