Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
dass sie die Außenhüllen der Implantate angreifen und die Kissen zum Platzen bringen kann. Alexandra bekam Panik, begab sich erneut unters Messer und ließ das falsche Silikon durch Qualitätsware ersetzen. Die Rechnung zahlte diesmal ihre Mutter. Woher die minderwertigen Implantate kamen? Von Poly Implants Prothèse aus Besançon, dem damals drittgrößten Produzenten auf dem Markt. Ein Skandal. PIP exportierte das Billigsilikon in siebenundsechzig Länder, sogar nach Brasilien und Venezuela. Man schätzt, dass weltweit dreihunderttausend Frauen solche Zeitbomben in sich tragen.
Alexandra Blachère ist ihre Stimme. Sie hat sich über das Internet mit mehreren tausend Opfern verbündet, sammelt Spenden, legt sich mit den Krankenkassen an und spricht immer wieder im Gesundheitsministerium in Paris vor. Ihr Ziel: Alle Betroffenen sollen kostenlos neue Implantate erhalten.
Es ist eine komische Situation, dieser Frau gegenüberzusitzen und ein seriöses Interview über ihre sekundären Geschlechtsmerkmale zu führen. Natürlich muss ich dabei unweigerlich immer wieder auf ihre Brüste starren. Das merkt Alexandra, die übrigens genau mein Jahrgang ist, und es ist ihr recht. Nein, es ist sogar kalkuliert. Ganz bewusst lässt sie ihren schwarzen Spitzen-BH ein Stück zu weit aus ihrem Ausschnitt ragen. Ich versuche, die Atmosphäre etwas zu entkrampfen: «Würden Sie sich als Jeanne d’Arc der Silikonkissen bezeichnen?» – «Oh, das gefällt mir. Das gefällt mir sehr», flirtet sie, und in diesem Moment betritt ihr Gatte das Wohnzimmer, ein sportlicher Mann im Jogginganzug, der sich als «Herr Müller» vorstellt. Müller erklärt, er habe deutsche Vorfahren und stamme aus Altenburg bei Leipzig. Leider sei er der einzige Deutsche, der kein Deutsch spricht.
Jetzt reden wir zu dritt über Alexandras Brüste, und alles wird noch bizarrer. Herr Müller setzt sich auf die Sofakante und beginnt, laut zu fluchen. Sein ganzer Körper steht unter Strom, seine Gesten sind roh und aggressiv. Er schimpft, er habe letztens TV-Werbung gesehen und hätte sie nach ein paar Minuten ausstellen müssen, weil er sonst aus der Haut gefahren wäre: «Alle Firmen versprechen mir, wenn Ihnen das Produkt nicht gefällt, können Sie es binnen vierzehn Tagen kostenfrei zurückgeben! Oder umtauschen! Oder es gibt Geld zurück! Oder ein Geschenk! Also frage ich: Was bieten mir die Chirurgen? Die machen eine OP, und wenn was schiefgeht, heißt es: Pech gehabt! Dann operieren sie ein zweites Mal und halten wieder die Hand auf! Die profitieren doch immer noch!»
Im Moment hat Herr Müller einfach viel zu viel Zeit, sich aufzuregen. Hauptberuflich passt er auf die Kinder und den kleinen Hund Gizmo auf, einen Job hat er nicht in Aussicht. Seine Frau Alexandra arbeitete als Krankenschwester, war aber zuletzt fulltime damit beschäftigt, Anwälte zu treffen und die Mails anderer Silikon-Opfer zu beantworten. Manchmal jobbt sie als Nounou, als Kindermädchen, aber natürlich reicht das alles nicht.
«Was halten Sie denn von dem Doktor, der die Implantate verkauft hat?», frage ich.
«Das Arschloch ist kein Doktor!», antwortet Herr Müller.
«Was ist er dann?»
«Der hat Metzger gelernt! Der Typ ist ein verdammter Fleischer!»
Das ist die Ironie der Geschichte. Angeblich soll Jean-Claude Mas, der Gründer von PIP, seine Karriere tatsächlich an der Wursttheke begonnen haben. Später handelte er mit Wein, Cognac und Reinigungsgeräten, bis das Verkaufsgenie das ganz große Geld in der Schönheitsindustrie witterte. Ein simpler Bauerntrick machte ihn zum Multimillionär: Industriesilikon ist siebenmal günstiger als das reguläre Gel. So konnte er seine Implantate zu unschlagbaren Preisen auf den Markt werfen. Mittlerweile sitzt Mas in Haft, doch nach Canossa geht er nicht. Im Gegenteil: Bis heute brüstet er sich mit der Qualität seiner Arbeit.
«Das ist kein Mensch», sagt Alexandra und verlässt kurz das Zimmer. Sie kommt wieder und legt ein Billigimplantat auf den Glastisch. Jetzt nimmt unsere Begegnung eine fast surreale Wendung. Ganz sicher kann man sich ja nicht sein, aber ich glaube, ich habe noch nie eine Silikonbrust angefasst. Heute ist mein erstes Mal. Zumindest das erste Mal, dass ich ein Silikonkissen bewusst anfasse. Es ist erstaunlich schwer und fühlt sich hart an, zumindest die Außenhaut. Fast andächtig knete ich es in meiner Hand und wage nicht zu fragen, ob dieses Ding einmal in Alexandras Brust gesteckt hat. Während ich
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