Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
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Böser die Glocken nie klingen
(Besançon)
D er Himmel ist verschwunden und mit ihm die Sonne, der Mond und alle Sterne. Über mir ist nur noch das Nichts, ein fahles Grau, aus dem Milliarden kalte, zermürbende Tropfen fallen. Wenn es regnet und ich meine Kapuze schließe, dann verriegelt sich auch mein Kosmos. Wenn es regnet, verliere ich den Blick in die Ferne und ziehe mich ganz in mich zurück. Wenn es regnet, denke ich an Italien. Den Blick gesenkt, drücke ich mich an den Leitplanken einer Schnellstraße entlang, Reifen kreischen über den nassen Asphalt, Gras und Lehm sammeln sich im Profil meiner Schuhe. Doch mein Geist sitzt im T-Shirt auf einer Piazza, isst Tortellini und sieht den Spatzen zu, die im untergehenden Licht über die Ziegeldächer flattern. Lastwagen zischen durch die Lachen, Wasser schlägt mir ins Gesicht, Dornbüsche am Wegrand versuchen, mich festzuhalten. Doch ich bin in Turin, in Vercelli oder in Reggio und muss nur stur weiterlaufen, immer der Straße nach, und irgendwann, das ist sicher, sind die Lastwagen fort, die Tropfen verfliegen, und das Grau über mir reißt auf. Irgendwann. Doch dieser Moment ist noch fern.
Der Aprilregen begann schon vor vier Tagen in Belfort und will einfach nicht enden. Auch nicht hier in Besançon. Die Häuserschluchten scheinen langsam vollzulaufen. Man hat das Gefühl, die Passanten würden bald mit ihren Schirmen und Handtaschen in den breiten Fluss getragen, der die Altstadt umspült.
Das Herz von Besançon ist von drei Seiten nur über Brücken zu erreichen, es liegt dicht zusammengeschoben in einer Schleife des Doubs. Auf engem Raum drängt sich die kulturelle Elite der Stadt: Theater, der Justizpalast, das Erzbistum, die Cathédrale Saint-Jean, das Musée des Beaux-Arts et d’Archéologie. Die Landseite des Stadtkerns wird von einer Klippe geschützt, dort wacht die Zitadelle, eine Festung aus dem 17. Jahrhundert. Es ist kein Wunder, dass dieser natürlich geschützte Ort immer wieder große Krieger anlockte. Schon zur Bronzezeit sollen die Gallier hier gesiedelt haben, Julius Cäsar besetzte die Stadt, Marc Aurel errichtete einen Triumphbogen, die «Porte Noire».
Zur Zeit Heinrichs IV. gehörte Besançon als Teil von Burgund zum Heiligen Römischen Reich. Der König kam mit seiner Familie hierher, um mit Graf Wilhelm, einem Großcousin, Weihnachten zu feiern. Was für eine nette Auszeit auf dem Gang nach Canossa! Der Chronist Lampert von Hersfeld schreibt, dieser weihnachtliche Empfang in Besançon solle trotz Heinrichs misslicher Lage «ziemlich glänzend» gewesen sein. Schließlich habe der Graf über «weite, blühende Besitzungen» verfügt. Lasst uns froh und munter sein – man kann sich in etwa vorstellen, wie es die edlen Leute krachen ließen. So viel zur Legende von Buße, Entsagung und Selbsterniedrigung. By the way: Es heißt, Heinrich solle «wenige Tage vor Weihnachten» in Speyer losgezogen sein. Allerspätestens an Heiligabend muss er Besançon erreicht haben – sonst hätte er den Gänsebraten und die Bescherung verpasst. Das macht mich etwas stutzig, denn die Strecke hat in direkter Linie etwa dreihundertdreißig Kilometer. Ich habe sie in sechzehn Tagen bewältigt – im Frühling und auf befestigten Wegen. Das bedeutet: Entweder waren der Wanderkönig und sein Gefolge unglaublich gut zu Fuß, oder sie haben, auf Deutsch gesagt, beschissen.
Heute reißen sich gleich mehrere Krieger um Besançon. Die Plakate mit ihren Konterfeis sind überall in der Stadt hübsch nebeneinander aufgereiht. Werbeagenturen und Spindoktoren haben sich wieder mal viele Gedanken gemacht: François Hollande blickt zuversichtlich in die Kamera, hinter ihm eine weite grüne Landschaft, blauer Himmel und unschuldige Quellwolken. «Le changement c’est maintenant», steht in weißen Lettern unter ihm, «Der Wechsel ist jetzt». Marine Le Pen presst die Lippen zusammen und zwingt sich zu einem Lächeln, sie hat die Hände flach aufeinandergelegt und sitzt uns leicht gebückt gegenüber. Ihr Wahlspruch ist geheimnisvoll und zögerlich zugleich: «Oui, la France». Das lässt mich etwas ratlos zurück. «Ja, Frankreich» – kein Punkt, kein Ausrufezeichen, der Anfang eines Satzes? Worauf will sie hinaus? Nicolas Sarkozy wirbt mit dem Credo «La France Forte», ein starkes Frankreich, das passt zu ihm. Als einziger Kandidat blickt der Präsident entrückt an der Kamera vorbei, er scheint es nicht nötig zu haben, dem Wähler direkt in die Augen zu
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