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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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weinen. «Was ist denn los?», wollte meine Mutter wissen. «Mama, ich will keine Kuh!», heulte ich. Vielleicht war ich damals schon so kurzsichtig wie heute, noch immer weigere ich mich, eine Brille oder Kontaktlinsen zu tragen.
    Als ich mich beruhigt hatte, gab ich meinem Pony einen Heldennamen aus der Sesamstraße: Samson. Damals hatten wir einen Reiterhof in Leeden bei Osnabrück, und manchmal durfte ich meinen Hauptgewinn dort besuchen. Doch Samson und ich wurden keine Freunde, im Gegenteil: Immer wenn man mich auf seinen Rücken setzte, schmiss er sich auf die Seite und warf mich im hohen Bogen in den Mist. Das nahm ich ihm sehr übel, und ich beschloss, ihn nie wiederzusehen. Auch in den Monaten darauf blieb er störrisch und wild. Meine Oma schenkte ihn irgendwann entnervt einer Einrichtung für behinderte Kinder. Und wenn er nicht gestorben ist, terrorisiert er sie noch heute.
    Ich telefoniere ein drittes Mal. Es soll im südlichen Jura, in La Pesse, einen kleinen Bauernhof geben, der zwar keine Pferde und zum Glück auch keine Ponys verleiht, dafür aber Wanderungen mit Eseln anbietet. Das finde ich süß. Vier bis sechs Tage lang läuft man mit so einem Tier durch die Landschaft, der Esel trägt den Rucksack, den Proviant und die kalten Getränke und kennt sogar den Weg. Man muss ihm nur folgen und ihn gut behandeln, dann bringt er einen ans Ziel. Doch die weibliche Stimme in der Leitung enttäuscht mich. Sie sagt, zu dieser Jahreszeit seien die Tiere noch im Tal, die Saison beginne erst Ende Mai. «Und habe ich Sie richtig verstanden, Sie wollen jetzt durch das Jura-Gebirge wandern?» – «Ich will es versuchen», antworte ich, und die Frau hält mir einen Vortrag: ob ich noch ganz richtig ticken würde, ob mir klar sei, wie viel Schnee noch in den Bergen liege, und ob ich einmal den Wetterbericht gelesen hätte?
    Am nächsten Morgen wird mir klar, was sie meint. Ich schiebe die Vorhänge zur Seite und werde auf der Stelle blind. Ganz Pontarlier ist tief zugeschneit und eingeschlossen im dichten Nebel, der die Stadt wie ein gigantischer Wattebausch umhüllt. Er verdeckt sogar die Uhr im Turm der Porte St. Pierre, dem steinernen Eingangstor zur Altstadt. Ich bin für die erste Etappe der großen Jura-Überquerung extra früh aufgestanden, doch wenn ich jetzt ins kleine Sibirien aufbreche, ende ich wie der arme Ötzi. In fünftausend Jahren taue ich als Rätsel der Wissenschaft wieder auf: Warum trug die Gletschermumie eine italienische Minigolfmedaille aus den sechziger Jahren bei sich?
    Was hilft’s. Ich bleibe noch eine Nacht in Pontarlier. Und noch eine. Und noch viele mehr. Doch der Winter verharrt mit mir. An manchen Nachmittagen bricht das Sonnenlicht durch die Wolken, der Schnee auf dem Kopfsteinpflaster beginnt zu tauen, und ich kann die Umrisse der Berge erahnen. Aber immer wenn es dunkel wird, erstarrt das zarte Pflänzchen Hoffnung in mir zu einer Blume aus Eis. Der GTJ, der große Abenteurerweg, bleibt gesperrt, die Lawinengefahr ist zu hoch. Es kommt mir vor, als hätte König Heinrich IV. den Frost geschickt, um mir zu sagen: Siehst du, ich bin zwar nicht zu Fuß nach Canossa gegangen, aber im Gegensatz zu dir habe ich mich wochenlang durch die Kälte gequält. Also, wer von uns beiden ist jetzt der Schisser?
    Eindeutig ich. Und Angst ist noch untertrieben, Panik würde meine Stimmung besser beschreiben. Wenn ich schon am Jura scheitere, wie soll ich es zu Fuß über die Alpen schaffen? Pontarlier, die kleine Stadt, in der ich gerade wie der Affe auf dem Felsen sitze, liegt auf achthundert Metern, Heinrichs Schicksalsberg ist fast dreimal so hoch: Der König zog über den steilen Mont Cenis, einen legendären Berg auf der Grenze zwischen Frankreich und Italien. Und wenn es hier schon schneit, wie sieht es dann erst im Hochgebirge aus? Natürlich stelle ich mir all diese Fragen schon länger, doch bisher ist es mir gelungen, sie zu verdrängen. Sonst hätte ich mir wohl eingestehen müssen, dass es für große Überquerungen viel zu früh ist. «Die Alpen sind dein Problem», hat Lotte mir prophezeit, «du kommst nicht allein über die Alpen.» Diese Worte hallen wie ein Echo durch meinen Kopf. Du kommst nicht allein über die Alpen, du kommst nicht allein über die Alpen.
    Was tun, wenn die Stimmung am Boden ist? Lösung eins: Aktionismus. Ich sende eine Flut von E-Mails um den Erdball. Zuerst schreibe ich meinem Guru in Rishikesh, dann dem Deutschen Alpenverein Hamburg. Beide bitte ich

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