Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Absinthlöffel, und in dessen Mitte platziert er ein Stück Würfelzucker. Sachte öffnet er einen Hahn der Absinthfontäne und lässt das Eiswasser langsam über den Zucker durch den Löffel in den Alkohol tröpfeln. Ein magischer Moment. Die Reaktion des Zuckerwassers und der Anisessenz gibt der grünen Fee ein unschuldiges Weiß. Der Absinth wird milchig, er opalisiert.
Meine letzte Begegnung mit Absinth ist eher nicht so gut verlaufen. Ich hatte meinem Kumpel Schucki beim Umzug geholfen, danach lud er mich und ein paar andere auf den St.-Pauli-Weihnachtsmarkt ein. Ich weiß nicht mehr, wie viel wir getrunken haben, aber die Verkäuferin am Glühweinstand war uns so dankbar, dass sie ein Tablett mit Schnapsgläsern auf den Tresen stellte. Darin schwappte eine grüne Flüssigkeit. Ich habe nicht gefragt, was ich da zu mir nahm, doch als ich am nächsten Morgen aufwachte, trug ich eine Kapitänsmütze auf dem Kopf. Wir alle haben Wochen gebraucht, um die Mosaiksteine unserer Erinnerung wieder zusammenzufügen. Offenbar waren wir auf die Party eines langhaarigen Zuhälters geraten, der auf dem Kiez in seinen Geburtstag reinfeierte. Um Mitternacht war ich der Erste, der ihm gratulierte. Als würde ich seit Jahren mit ihm krumme Geschäfte machen, fiel ich dem muskelbepackten Luden um den breiten Hals. «Der ist tot», dachte sich Schucki. Doch anstatt mich abzustechen, hielt der Mafioso meine Geste wohl für den Beginn einer langen Freundschaft und zeigte sich auf seine Weise erkenntlich: Er spendierte uns «Susis Dildo-Show». Details gehen niemanden was an.
Bier macht schleichend betrunken, fast zärtlich lullt es dich ein. Wodka ist von Natur aus falsch. Stundenlang kann er dich in Sicherheit wiegen, und es scheint, als habe er überhaupt keinen Effekt. Erst wenn du aufstehst, zieht er dir plötzlich die Beine weg und knipst das Licht aus. Absinth dagegen geht direkt in den Kopf, du spürst ihn schon beim ersten Schluck. Sobald er die Zunge benetzt, gehen die Synapsen in die Disco, und der Verstand verabschiedet sich in eine Welt ohne Kummer, ohne Schreibblockaden und ohne Deadlines. Ich kenne keinen anderen Alkohol, der so gnadenlos und gleichzeitig so inspirierend ist.
In dieser Nacht schneide ich mir kein Ohr ab, ich erschieße niemanden, und Todessehnsucht liegt mir fern. Doch in den Armen der grünen Fee beginne ich endlich die große Überquerung des Jura-Gebirges. Zu Fuß.
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Kapitel 14
Premium Lifestyle
(Genf)
D ie grüne Fee ist großzügig. Sie verwandelt mich in einen Däumling und trägt mich auf ihren Flügeln über die Schweizer Grenze nach Neuchâtel. Ich steige einmal um und erreiche am frühen Nachmittag den Gare de Cornavin, den Hauptbahnhof von Genf.
Als ich die Empfangshalle verlasse, rennen zwei Männer im Abstand von etwa zehn Metern direkt auf mich zu. «Stop this guy!», brüllt der entferntere mir zu. «He’s a thief! Stop him!» Solche Momente vergehen wie in Zeitlupe. Ich versuche, die Situation zu erfassen. Der Verfolger trägt eine Sonnenbrille, er ist Asiat, vermutlich Chinese. Sein schwarzes Sakko ist offen und flattert, seine Bewegungen sind ungelenk, lange wird er diesen Sprint nicht durchhalten. Der mutmaßliche Dieb ist ein drahtiger, dunkler Typ in Lederjacke, der jedem Klischee entspricht. Er hat die Augen weit aufgerissen, in seinem Blick sind Entschlossenheit und Furcht.
Was soll ich jetzt tun? Dem Mann ein Bein stellen oder versuchen, ihn festzuhalten? Vielleicht schlägt er mich dann k.o.? Vielleicht trägt er eine Waffe? Oder vielleicht ist er gar kein Dieb und läuft um sein Leben, weil der andere ihn abstechen will? Eine Verschwörung? Die chinesische Mafia? Rette ich die Welt, wenn ich den Asiaten überwältige? Rot oder Schwarz? Millionen Gedanken schießen mir durch den Kopf. Mein Verstand lässt den Körper gefrieren, Rot und Schwarz preschen an mir vorbei, und wie gelähmt sehe ich den beiden noch eine Weile nach. Es ist die perfekte Szene für einen guten oder schlechten Spionagefilm. Chinese und Lederjacke hetzen die Uferpromenade entlang, hinter ihnen schießt der Jet d’Eau, die riesige Fontäne auf dem Genfer See, sein Wasser in die Luft. Was für eine Kulisse: weiße Segelyachten, Ausflugsdampfer, internationale Bankhäuser, im Hintergrund die Alpen, überragt vom schneebedeckten Gipfel des Montblanc, und das alles in optimalem Licht – die Sonne ist ein Schweizer. Manchmal streifen Rot und Schwarz im Sprint einen Passanten,
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