Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
dringlichst um Hilfe. Swami Sudhir Anand möge mich segnen und am Ufer des Ganges für meine Reise beten. Die alpinen Hamburger frage ich hanseatisch höflich, ob sie irgendeine Chance sehen, wie ich den Mont Cenis zu dieser Jahreszeit bezwingen kann. Diese Nachricht schicke ich in meiner Verzweiflung noch an zwanzig andere Wanderclubs in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Copy, paste, go.
Auf den Aktionismus folgt der Alkoholismus. Und für dieses letzte Abenteuer, die große Überquerung des Promille-Gebirges, könnte es keinen besseren Ort auf der Erde geben als Pontarlier.
Als ich die Tür zur kleinen Destillerie Arman Guy in der Rue Lavaux langsam aufschiebe, empfängt mich ein starker Anisgeruch. Schwerer Alkohol liegt in der Luft, schon das Atmen macht betrunken. Unter der Decke des Vorraums, in dem Kupferkessel, Holzfässer und Hunderte Flaschen mit einer smaragdgrünen Flüssigkeit stehen, funkeln Kronleuchter, und aus dem hinteren Teil der Brennerei dringt lautes Gelächter. Ich sehe schüchtern um die Ecke und finde mich plötzlich in einer Traube aus bestens gelaunten Madames und Monsieurs, die sich in Grüppchen um aufrecht stehende Fässer drängen. Kaum jemand nimmt von mir Notiz, denn sie alle tanzen eng umschlungen mit der grünen Fee. Pontarlier ist die Welthauptstadt des Absinths.
Legenden ranken sich um diesen Alkohol. Oscar Wilde schrieb auf Absinth, Gauguin malte auf Absinth, und van Gogh soll sich im Absinthrausch ein Ohr abgeschnitten haben. Im späten 19. Jahrhundert versank ganz Paris in einer grünen Wolke, Absinthismus war die anerkannte Krankheit der Bohème. Am frühen Abend traf sich die Hautevolee zur «grünen Stunde» in den Cafés und versank in diesem janusköpfigen Tropfen aus Anis, Wermut und Fenchel, der den Menschen an die Schwelle zwischen Genie und Wahnsinn tragen konnte. Bald verfielen auch die einfacheren Leute der grünen Fee, denn Absinth war nur wenig besteuert und günstiger als Wein. Pontarlier war damals das Zentrum der Absinthproduktion und pumpte angeblich hunderttausend Liter täglich in die Köpfe der Kreativen und Kellerkinder. Als ein Feuer die Destillerie Guy im Jahre 1901 niederbrannte, flossen eine Million Liter Absinth in den Doubs und färbten ihn grün. Kurz danach schimmerte auch das Wasser der Kilometer entfernten Loue plötzlich in dieser Farbe. Erst durch dieses Unglück fand man heraus, dass beide Flüsse unterirdisch verbunden sind.
Ein aufsehenerregender Mord bereitete dem kollektiven Taumel ein jähes Ende. Der Weinbergarbeiter Jean Lanfray hatte zum Mittagessen sechs Cognac, sieben Gläser Wein, einen Kaffee mit Brandy, zwei Gläser Minzlikör und zwei Absinth getrunken. Er torkelte nach Hause, stürzte noch einen Kaffee mit Brandy, begann einen Streit mit seiner Frau und forderte sie auf, ihm die Schuhe zu polieren. Als sie sich weigerte, schoss er ihr mit einem Gewehr in den Kopf. Seine vierjährige Tochter Rose kam erschrocken in den Raum gelaufen, und Lanfray erschoss auch sie. Dann ging er ins Kinderzimmer und tötete die zweijährige Blanche.
Natürlich war überhaupt nicht klar, welche Substanz den braven Familienvater zum Monster werden ließ. Aber die Politik hatte endlich ihren Vorwand gefunden. Es hieß, Absinth sei «menschenverderbend», mache Männer zu Bestien, Frauen zu Huren und Kinder zu hirnlosen Zombies. Tatsächlich konnte exzessiver Konsum zu Halluzinationen, Todessehnsucht, Krämpfen und sogar Blindheit führen. Man nahm an, dass die hohe Konzentration des Nervengifts Thujon den Wahn ausgelöst hatte, und so wurde die grüne Fee Anfang des 20. Jahrhunderts in den meisten europäischen Ländern verboten. Die Volksgesundheit war wiederhergestellt – pünktlich zum Ersten Weltkrieg. Heute weiß man, dass nicht das Gift, sondern der billige Alkohol verantwortlich für das Siechtum war. Seit zehn Jahren ist Absinth wieder legal.
Ein Mann im blauen Kittel bemerkt mich. Er sieht mich an, hebt sein Kinn, und ich nicke ihm zu. Auf dem Tisch vor ihm steht die Absinthfontäne, ein hohes Glasgefäß mit mehreren Wasserhähnen an den Seiten. Oben auf der Kuppel des Behälters sitzt ein kristallener Papagei, der seine Flügel ausbreitet und zum Flug ansetzt. Jetzt beginnt das Absinthritual. Der Mann öffnet eine Flasche und gießt gerade so viel in ein Glas, bis sich das kugelförmige Reservoir im unteren Teil smaragdgrün gefärbt hat. Auf den Rand des Bechers legt er einen durchlässigen, silbern blitzenden Spatel, den
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