Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Mein innerer Türsteher hat gute Arbeit geleistet, ich wollte mich schon den ganzen Tag über selbst aus dem Hotel werfen.
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Kapitel 15
Kraftwürfel
(Genf–Faverges)
D ie Älteren erinnern sich vielleicht. Vor fünfzig Millionen Jahren krachte Afrika in den eurasischen Kontinent und schob die adriatische Platte wie einen Keil in den Süden Europas. Dort, wo die Platten aufeinandertrafen, erhob sich ein unvorstellbar hohes Gebirge. Es heißt, manche Splitter der gigantischen Knautschzone hätten zehn bis dreißig Kilometer in den Himmel geragt. Doch wie das Wasser bewegt sich auch Gestein in einem ewigen Kreislauf. Es wird zu Bergen aufgetürmt, vom Gletschereis gebrochen, von Flüssen gemahlen und zerfällt in der Sonne zu Staub. Und so ist ein Großteil der urzeitlichen Alpen auch schon wieder Geschichte.
Ihr Rest aber macht mir Sorgen. Es war eine gruselige Nacht. Trotz des Kingsize-Betts, trotz der sechs harten, soften und supersoften Kissen, trotz der fünf Whiskeysorten bin ich vor Schiss immer wieder aufgewacht. Stimmen geisterten durch meinen Schädel. «Die Alpen sind dein Problem!», rief das Orakel. «Es ist viel zu früh!», warnte der Wanderlehrer. «Du schaffst das nicht!», jammerte meine Moral. Außerdem hatte ich einen bösen Traum. Ich saß in der Lobby des Beau-Rivage und willigte in alles ein, was der Garçon mir offerierte.
«Darf es ein Gläschen Champagner sein?»
«Oh, sehr gerne!»
«Möchten Sie vielleicht Golf spielen?»
«Warum nicht?»
«Hätten Sie Interesse, gegen Oliver Kahn anzutreten?»
«Aber sicher!»
Eilig bohrte der Kellner achtzehn Löcher in den Marmorboden, stellte Fähnchen auf und ließ den Kahn-Titan von München nach Genf einfliegen. Die denkwürdige Partie im Atrium blieb bis zum Ende spannend. Erst am letzten Loch bezwang mich die Torwartlegende mit einem präzisen Lob in eine unbezahlbare Ming-Vase. Es war ein großer Spaß, doch als der Kellner die Rechnung brachte, flüchtete ich aus dem Hotel. Der Preis für meine Eskapaden: 460690 Euro.
Ich schiebe mich aus dem Bett und taumle ans Fenster. Meine Stirn ist heiß, der Hals brennt, ich fühle mich schwach und zittrig. Mein Kopf ist so groß wie ein Lastwagen, und der Blick nach draußen macht alles noch schlimmer. Es ist sieben Uhr morgens, aber die Alpen sind nicht wieder aufgetaucht. Auch die Gebäude am anderen Ufer fehlen, und der Jet d’Eau ist immer noch ausgeschaltet, weil der Sturm das Wasser der Fontäne auf die Straße wehen würde. Das Panorama vor meinem Fenster, die Postkartenansicht der Stadt, hat sich in eine Waschküche verwandelt. Dichte Wolken hängen bis auf den Boden, der Regen ist zurückgekehrt und hat Verstärkung mitgebracht: Blitz und Donner jagen durch die Luft. Das Nebellicht eingeschaltet und mit geschlossenem Verdeck, kriechen Cabrios den See entlang, manche Fußgänger haben sich in Capes aus transparentem Plastik gehüllt. Mir wird flau. Ich renne in mein Barschelbad und muss mich übergeben. Wahrscheinlich sind es die Nerven. Früher habe ich vor jeder Mathe-Klausur Fieber bekommen, und nach der Prüfung war es wie von Zauberhand verschwunden.
Ich schlafe wieder ein, doch das Unwetter bleibt. Als ich erwache, ist es schon elf, und mir wird klar, dass ich genau drei Alternativen habe. Erstens: Ich schultere den Rucksack, fahre die Teleskopstöcke aus und steige erkältet in eine Gewitterwolke. Zweitens: Ich akzeptiere, dass Wandern heute unmöglich ist, bleibe in Genf und lasse mein Konto bis zum letzten Cent aussaugen. Drittens: Ich komme auf anderem Wege in die Voralpen.
Jewgenija, die junge Frau an der Rezeption, fragt, ob ich in Euro oder Schweizer Franken zahlen möchte. Meiner Kreditkarte ist das gleich. «C’était pas mal ici» – es war nicht übel hier, sage ich, und sie lächelt. «Au revoir», ruft der Portier, doch ein Wiedersehen wird es wohl nicht geben. Kurz darauf sitze ich mal wieder an einem Busbahnhof, immerhin hat dieser internationales Flair. Hamburg ist das Tor zur Welt, der Gare Routière in Genf ist die Pforte zum Osten. Von hier aus rollen Reisebusse nach Belgrad, Budapest und Bratislava, nach Novi Sad in Serbien, Rijeka in Kroatien, nach Oneşti in Rumänien, Doboj in Bosnien-Herzegowina, aber auch ins Hochgebirge Frankreichs, in die Haute-Savoie.
Ich muss mich eine halbe Stunde gedulden und flüchte vor dem Regen in den gläsernen Wartesaal. Drei Männer in Jogginganzügen folgen mir, einer trägt ein Handtuch über
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