Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
dem Kopf. Sie hören sich an wie Polen oder Russen. Obwohl alle Stühle im Raum frei sind, setzen sich zwei der drei Männer direkt neben mir hin. Der Dritte hockt sich kaugummikauend auf den gekachelten Boden vor meinen Füßen und mustert mich. «Thank you!», ruft er. «Hey! Thank you!» Jetzt wird mir klar, dass er mich meint. «Ey, Blondie! Thank you! We English!» – «Oh, hello», brumme ich und hoffe, dass er die Lust an der Anglistik bald verliert.
«Stani, you can go London! Your English good», sagt ein anderer.
«Thank you!», sagt Stani und wendet sich wieder mir zu. «You English, Blondie?»
«Sorry, German.»
«Ahhh!», ruft Stani, springt mit einem Satz aus der Hocke und streckt seinen rechten Arm vor mir aus. «Heil Gitler!»
Ich schaue schweigend zu ihm hoch. Noch immer salutiert Stani, die Augen weit aufgerissen. «Heil Gitler! Heil Gitler!»
Nein, ich werde diese Provokation nicht kommentieren.
Doch Stani lässt nicht locker. «Ey, Blondie, your new name Heil Gitler! Understand? You Heil Gitler now.»
«How are you, Heil Gitler?», fragt ein anderer, und ich stehe auf und suche die Toilette. «Oh … Heil Gitler finish!», stöhnt Stani mir hinterher.
Leider ist das WC am Terminal «out of order», und nun rollt auch schon die Linie 172 nach Cruseilles ein. Drinnen ist es stickig und verraucht. Ich setze mich ganz nach hinten und bleibe der einzige Fahrgast, es ist nun mal Nebensaison in den Bergen. Der Schnellbus fährt an, die Heil-Gitler-Polen oder -Russen bleiben im Warteraum am Terminal zurück, und langsam, ganz langsam lasse ich Genf hinter mir. Doch erleichtert fühle ich mich nicht. Im Gegenteil: Alles erinnert haargenau an die große Überquerung des Jura-Gebirges zu Fuß. Ich scheitere. Noch viel schlimmer: Ich bin ein Scharlatan, ein Betrüger auf dem Gang nach Canossa. Spätestens jetzt ist meine Wanderung, das größte Abenteuer meines Lebens, nur noch eine Farce.
Deprimiert sehe ich mal wieder durch ein Fenster in den Regen. Allmählich schrumpfen die Gebäude, Genf löst sich auf, Vorstadttristesse. Statt den Mont Salève zu erklimmen, den ich heute Morgen zu Fuß bezwingen wollte, biegt der Bus auf die Autobahn und fährt im weiten Bogen durch ein Tal um das Gebirge herum. Klar, Heinrich IV. wird denselben Weg genommen haben, der König ist ganz sicher nicht direkt über den Berg geritten. Doch diese Erkenntnis ist ein schwacher Trost.
Jetzt nimmt der Fahrer eine Ausfahrt und tingelt über die Dörfer. Obwohl wir in der Ebene bleiben, schaukelt der Bus ungeheuer hin und her. Die Straßen sind schlecht, immer wieder tauchen Schlaglöcher und Bodenwellen auf. Mein Magen ist nicht begeistert, aber etwas anderes in mir ist kurz vor dem Platzen – kleine Sünden bestraft der Herr sofort. Ich erinnere mich daran, was wir Jungs auf Klassenfahrten in solchen Fällen getan haben. Etwa als der Reisebus von Osnabrück nach Berlin drei Stunden im Stau stand, wir unsere Fanta-Flaschen leer getrunken hatten, es keine Latrine an Bord gab und wir einfach keinen anderen Ausweg sahen. Mein Blick fällt auf die nagelneue Thermoskanne in der Seite des Rucksacks. Bis eben hatte ich wenigstens noch meine Würde. Tschüs, Würde.
So unauffällig wie möglich schließe ich die roten Seitenvorhänge. Kurzer Check: Der Fahrer achtet nicht auf mich. Ich schraube die Thermoskanne vorsichtig auf, nehme den Deckel ab, öffne meine Hose, und kaltes Metall berührt meine Haut. O Gott, ist das erniedrigend. Doch als ich versuche, die letzte Hemmung fallen zu lassen – und das ist gar nicht so leicht –, hält der Bus plötzlich an, ein zweiter Gast steigt ein und kommt nach hinten. Hektisch packe ich alles wieder ein und schäme mich noch mehr als vorher. Meine Busfahrt wird zur Bußfahrt. Die Landschaft interessiert mich längst nicht mehr und Cruseilles sowieso nicht, als der sogenannte «Schnellbus» die Stadt nach einer geschlagenen Stunde erreicht. Eine Stunde. Für zwanzig Kilometer. Ich sprinte in ein Café, bestelle Croque Monsieur und hetze auf die Toilette.
Der Koch persönlich bringt das Essen an meinen Tisch.
«Monsieur, laufen Sie nach Santiago de Compostela?», fragt er.
«Pardon?», knurre ich entnervt. «Das liegt doch in einer ganz anderen Richtung!»
«Stimmt, aber Sie sehen genau so aus.»
«Nein, ich laufe über die Alpen nach Italien.»
«Sie sind verrückt.»
«Ich weiß», sage ich, kehre in den erstbesten Gasthof ein, lege mich ins Bett und gehe nicht mehr aus dem
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