Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Wanderweg über den Kamm nach Cruseilles beginnen. Eine ausgewachsene Bergetappe auf eintausend Meter Höhe.
Es klopft. Ich springe aus der Barschelwanne, schlüpfe in den Hotelbademantel und öffne die Tür. Eine attraktive, dunkelhäutige junge Frau steht vor mir. Sie sagt, sie sei das Zimmermädchen und würde mir ihren «Abendservice» anbieten. «Welche Art von Service meinen Sie?», frage ich. «Ich könnte Ihnen das Bett aufschlagen!», antwortet sie. Bevor ich hier als Dominique Strauss-Kahn ende, lehne ich lieber ab. Stattdessen ziehe ich mir wieder meine Wurzelsepp-Klamotten an und setze mich eine Weile in die Lobby.
Natürlich weckt dieses Hotel, das ganze Premium-Lifestyle-Gehabe, meinen Voyeurismus. Ein Teil von mir lehnt diese Welt ab, der andere Teil würde unheimlich gern dazugehören. Ein Kellner fragt, ob ich einen Wunsch hätte. Jetzt bloß keinen Fehler machen, denke ich mir, sonst tritt noch eine der Prophezeiungen meines Orakels ein: Mir geht das Geld aus. Nur spaßeshalber schlage ich die Weinkarte auf. Was darf’s denn sein? Vielleicht einen 2004er Romanée-Conti aus dem Burgund, die Flasche für 8300 Euro? Ich schüttele den Kopf, der Kellner tritt ab, und bald darauf eilt ein Hotelmanager auf mich zu. Er reibt sich die Hände, während er mich freundlich fragt, ob es mir gutgehe und ob man etwas für mich tun könne. Subtext: Verschwinden Sie hier! Ich antworte ihm, dass es mir prächtig gehe und alles ganz wunderbar sei. Subtext: Ich fühle mich schrecklich unwohl und merke selbst, dass ich nicht hierhergehöre.
Nun weiß ich, was das Problem zwischen mir und dem Beau-Rivage ist: Ich bin das Problem. Ich bin ein Störfaktor in diesem Hotel. Meine bloße Anwesenheit raubt den Gästen zwei wesentliche Genüsse. Der erste ist die Diskretion. Ich gaffe, ich glotze, ich mache Fotos. Wer hier absteigt, zahlt auch für Anonymität. Der zweite ist die Exklusivität. Ein Rucksackreisender wie ich schmälert das Hotelerlebnis. Wenn ein bärtiger Landstreicher in der Empfangshalle sitzt, fragt man sich doch automatisch, ob dieses Etablissement wirklich so edel ist, wie es tut. Im Beau-Rivage, das ist nicht übertrieben, wird man nur nach zwei Gesichtspunkten beurteilt – Geld oder Aussehen. Beides fehlt mir heute Abend. Oder anders gesagt: Ich entspreche einfach nicht den Genfer Konventionen.
«Bonsoir», lächelt der Portier, als ich die Lobby verlasse und nach rechts in die Straße biege. Ich gehe ins «Little India» und bestelle ein überraschend erschwingliches Chicken Tikka und ein Mango Lassi. Während ich auf das Essen warte, bleibt ein Inder wortlos vor meinem Einzeltisch stehen. Ich sehe zu ihm hoch. Alles an ihm ist pechschwarz: sein weites Hemd und seine Pluderhosen, sein Hut, sein gekräuselter Bart, seine Augen, mit denen er mich fixiert. «You think too much», nuschelt er, «and Saturday is no good day for you.» Er wendet sich ab, ich stehe auf und folge ihm: «What did you say?» Jetzt nimmt er meine Hand. «Listen, Mister, you are a lucky man. But your heart is too open, too weak. Take a good care on Saturday. This is very bad day for you», flüstert er und drückt mir etwas in die Hand: «Put this in your wallet!»
Es ist ein kleiner schwarzer Stein mit dem Bild eines roten Affen. Ich stecke ihn wie empfohlen in mein Portemonnaie, und der Inder öffnet seins. «Now put money here!», sagt er – und irgendwie war das ja klar. Genf ist die Stadt der großen und kleinen Diebe. Ich gebe ihm zehn Schweizer Franken, doch der Mann ist noch nicht zufrieden. «Mister!», klagt er. «Rich man give hundred fifty. Poor man give fifty. You are no rich man, but you are no poor man either. You give hundred!» Ich bin entsetzt, aber schlechtes Karma kann ich nicht gebrauchen. Schon gar nicht am Samstag, da bin ich mitten in den Alpen. Der Inder hat ein dankbares Opfer gefunden. Ich lege ihm fünfzig Schweizer Franken in die Geldbörse, er lächelt zufrieden und faltet seine Hände zu einem Namaste. Wahrscheinlich hat er gerade das Geschäft seines Lebens gemacht.
Später sitze ich auf der Kaimauer am See und blicke auf den Regenbogen, den die tausend bunten Lichter der Banken und Edelgeschäfte auf die Wasseroberfläche malen. Der Jet d’Eau hält Nachtruhe, die Segelyachten und Ausflugsschiffe haben angelegt, die Alpen sind im Schatten der Nacht verschwunden. Unter mir huschen Ratten über die Ufersteine, hinter mir leuchten die zehn goldenen Buchstaben auf dem Dach des Beau-Rivage.
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