Ganz die Deine
die Sache nicht unbedingt vereinfachte. Immer wieder musste ich mit ansehen, wie meine schönsten Theorien sich in nichts auflösten: Denn kaum glaubte ich, eine der drei Seiten erfolgreich entfernt zu haben, kam stattdessen eine weitere hinzu, und das Dreieck verwandelte sich in ein Quadrat. Das war schon Alicia so gegangen.
Eine solche Geometrie soll einem erst einmal jemand erklären!
Mein Schaubild zeigte jedenfalls ungefähr Folgendes:
Ü BERSCHRIFT :
E RNESTO UND C HARO :
M ÖGLICHE K ONSTELLATIONEN
Zunächst hatte ich schreiben wollen »Ernesto und Charo: Mögliche Beziehungen«, aber aus irgendeinem Grund missfiel mir der Ausdruck »Beziehungen«. Ebenso verwarf ich die Begriffe »Verbindungen«, »Zusammenhänge«, »Verknüpfungen« und »Abhängigkeiten«.
1. Variante:
Alles, was Ernesto bis jetzt gesagt hat, stimmt, aber:
–› Zufälligerweise traf er Charo am Flughafen.
–› Zufälligerweise wollte sie auch irgendwohin fliegen (aber nicht nach Rio).
–› Zufälligerweise fuhren sie gemeinsam die Rolltreppe hinauf.
–› Zufälligerweise überkam Ernesto oder sie oder sie beide die Lust, den bzw. die andere(n) zu küssen, was sie dann auch taten.
Ich verwarf diese Variante aus einem einfachen Grund: Ich glaube nicht an Zufälle. Und man sollte sich schließlich selbst treu bleiben. »Zufälligerweise« tritt man vielleicht gerade in dem Moment vors Haus, in dem ein Blumentopf von einem Balkon fällt und einem den Schädel einschlägt. Aber anzunehmen, zwei Personen könnten sich »zufälligerweise« küssen, während sie im Begriff stehen, eine Flugreise anzutreten, ist, gelinde gesagt, kindisch.
2. Variante:
Die Geschichte mit der Deinen ist mehr oder weniger so verlaufen, wie mir bekannt, aber:
–› Nachdem Ernesto wegen dieser Angelegenheit so oft mit Charo zusammengetroffen war, hat er sich schließlich in sie verguckt.
–› Ernesto musste eine Dienstreise nach Brasilien unternehmen und beschloss, Charo mitzunehmen.
–› Es handelt sich folglich um eine Affäre, wie sie Ernesto so – oder so ähnlich – schon mehrfach während unserer Ehe gehabt hat, weswegen kein Grund zu größerer Besorgnis besteht.
»Findest du?«, fragte ich mich selbst, sobald ich den Satz zu Ende geschrieben hatte. Aufzuschreiben, was man denkt, ist wirklich eine gute Methode, denn wenn man es anschließend noch einmal durchliest, ist es, als unterhielte man sich mit jemand anderem, was einem die Gelegenheit gibt, ausgiebig Widerspruch und Kritik zu äußern. Ich sah auf das von mir beschriebene Blatt Papier und sagte zu der anderen, die eigentlich ich war, andererseits aber eben gerade nicht ich: »Wie kommst du denn auf diesen Blödsinn?« Wenn Ernesto und Charo, die beide auf die eine oder andere Weise mit dem Verschwinden der Deinen zu tun hatten, sich völlig ungeniert in der Öffentlichkeit küssten, während sie sich gemeinsam auf eine Reise begaben, konnte das nur bedeuten, dass es sich hier keineswegs um eine belanglose Affäre handelte.
Bevor ich mich an die Abfassung der dritten Variante machen konnte, war ein wenig Feldforschung nötig. Ich wusste kaum etwas über Charo. Eigentlich bloß drei Dinge: Sie war Alicias Nichte, sie stand in einer wie auch immer gearteten Beziehung zu meinem Ehegatten, und sie arbeitete als Fotografin für eine Illustrierte. Ich ging zum Kiosk und bat den Besitzer, mir für einen Moment sämtliche Zeitschriften, die in dieser Woche erschienen waren, zu überlassen. Ich sah mir überall das Impressum an und entschied mich dann für eine, bei der unter anderem eine »Charo Soria, Fotografin« aufgeführt war. Ich ging zurück nach Hause, wählte die Nummer der Zeitung, aber nichts geschah. Ich legte auf, und da erst begriff ich, dass kein Ton zu hören gewesen war: Ich hatte das Telefon ausgesteckt! Ich steckte es wieder ein und wählte erneut.
»Ediciones Pampa«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende. »Guten Tag, könnte ich bitte Ihre Fotografin Charo Soria sprechen?« – »Nein, die ist nicht da.« – »Wann wäre sie denn zu erreichen?« Der Mann am anderen Ende rief zu jemandem in seiner Nähe: »Hey, wann ist Charo wieder da?« Der Angesprochene rief etwas zurück, was ich jedoch nicht verstand. »Keine Ahnung, Señora, sie ist verreist«, sagte der erste Mann. »Ach so, verreist. Stimmt, sie wollte nach Rio.« – »Ja, genau, beim letzten Mal hat es ja nicht geklappt.« – ›Beim letzten Mal nicht geklappt‹,
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