Ganz oder gar nicht
seiner Zeit in Bagestan und Parvan erzählte und sie damit an ihre Vergangenheit und ihre Verbin dung zu jenem Teil der Welt erinnerte. Sie würde sich mit der Familie Jamshids und mit ihrem Erbe auseinander setzen müssen, wenn die Situation, in der sie steckte, welche auch immer das sein mochte, erst einmal vorüber wäre.
Mehrmals war Rosalind kurz davor, Sir John zu fragen, ob er etwas über die Bahramis oder die al Makhtoums wisse. Sie hatte oft den Eindruck, dass er darauf wartete, von ihr Fragen gestellt zu bekommen. Aber der Gedanke, dass solche Fragen unweigerlich zu weiteren Fragen von seiner Seite führen würden und dass auch sie ihm einiges würde erklären müssen, hielt sie davon ab.
Doch irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, als wüsste Sir John, wer die Leute waren, von denen Najib behauptete, sie suchten Sam.
Rosalind hatte sich angewöhnt, morgens früh aufzustehen und vor dem Frühstück eine Stunde spazieren zu gehen, in der Hoffnung, den magischen Stein zu finden. Im südwestlichen Teil des Anwesens war der Wald besonders dicht und undurchdringlich, und alle Wege schienen ins Nichts zu führen. Sie hörten entweder an der Steinmauer oder einfach mitten im Wald auf.
Heute folgte Rosalind einem kleinen Flusslauf. Sie dachte nicht so sehr an den Stein, den sie finden wollte, als daran, wie sie vielleicht herausgefunden haben würde, wann alles vorbei wäre und sie und Sam zu ihrem normalen Leben zurückkehren konnten. Bis jetzt war sie zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihre Spuren zu verwischen, um darüber nachzudenken.
Der Wald schien uralt zu sein. Die Bäume waren sehr hoch, und es waren hauptsächlich Espen, Eichen, Eschen, Buchen, Ulmen - Bäume, die in vorchristlicher Zeit als heilig galten und der Großen Mutter, der Erde, geweiht waren. Die Sonnenstrahlen brachen sich zwischen den Blättern und zauberten ein goldenes Muster auf den Waldboden.
Rosalind fühlte sich fast ein wenig beklommen. Alles um sie herum wirkte so erhaben und göttlich.
Sie fühlte sich wie verzaubert, als betrete sie ein Land aus lange vergangener Zeit, als der Wald noch jung gewesen war.
Plötzlich wurde der Fluss breiter und wilder, und dort, wo ein besonders großer Baum am Ufer stand, endete der Pfad. Rosalind erkannte die Stelle. Hier war sie bis jetzt immer umgekehrt. Aber Sir John hatte ja gesagt, es sei nicht einfach, den Stein zu finden und da der Morgen sehr mild war, beschloss sie, diesmal weiter zu gehen.
Rosalind zog sich die Schuhe aus und stieg in den Fluss. Dabei hielt sie sich an den tief herabhängenden Zweigen eines Baumes fest.
Das Wasser war tiefer, als sie gedacht hatte, und eiskalt. Der Saum ihres Kleides wurde nass.
Vorsichtig setzte Rosalind auf dem steinigen Grund einen Fuß vor den anderen. Sie bückte sich unter einem besonders tiefen Ast, umrundete den mächtigen Stamm des Baumes - und entdeckte in etwa zehn Metern Entfernung eine Lichtung zwischen den Bäumen, überflutet vom Licht der frühen Morgensonne. Und am Rande dieser Lichtung, im Schatten einer großen Eiche, stand der magische Stein.
Rosalind konnte fast spüren, welche Kraft von ihm ausging. Sie stand da wie betäubt. Schließlich kam sie wieder zu sich, griff nach dem nächsten Ast und schwang sich aufs Ufer. Dort blieb sie nur kurz stehen, um den Saum ihres Kleides auszuwringen. Dann ging sie vorsichtig, bemüht, kein Geräusch zu machen, auf die Lichtung und auf den Stein zu.
Es war der größte Stein dieser Art, den sie je gesehen hatte, und er hatte eindeutig die Form einer knienden Frau, die auf den Fersen saß. Sogar Arme waren angedeutet und im Schoß liegende Hände.
Dieser Schoß war wie ein Sessel. „Komm zur Großen Mutter", schien der Stein zu sagen.
Fast ehrfürchtig ging Rosalind weiter darauf zu. Es war nur ein Stein, doch er schien zu pulsieren, als sei er lebendig.
Rosalind dachte an nichts mehr und spürte nur noch den unwiderstehlichen Drang, sich in die Mulde dieses Steins zu setzen
und sich der Weisheit anheim zu geben, die in ihm wohnte. Bei jedem Schritt spürte sie die Fruchtbarkeit der Natur um sie herum. Ihre nackten Fußsohlen berührten weiches Moos, harten Stein und feuchtes Laub. Und das Licht der Sonne drang warm durch das grüne Blätterdach.
Stärker als je zuvor wurde es Rosalind bewusst, dass die Welt sich unaufhörlich erneuerte in dem ewigen Kreislauf der Schöpfung, durch die Verschmelzung von männlich und weiblich, von Trieb und Geist.
Rosalind war wie in
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