Ganz oder gar nicht
gestreckt und elegant. Von dieser Seite hatte Rosalind es noch gar nicht gesehen. Die feuchten Fensterscheiben der Bibliothek glitzerten im Sonnenlicht.
„Meine Schuhe sind weg", murmelte Rosalind geistesabwesend.
Najib schüttelte nur den Kopf und führte sie über den Rasen zu einer kleinen Tür im rechten Flügel des Hauses. Früher war es einmal der Dienstboteneingang gewesen, jetzt diente der dahinter liegende Raum zur Aufbewahrung von Arbeitskleidung. Über den blank gescheuerten Steinboden schienen schon viele Generationen gelaufen zu sein. Daneben befand sich ein winziger Waschraum, wo Rosalind sich nun Hände und Füße wusch.
Najib wartete draußen, als sie wieder herauskam, und brachte sie durch einen engen Gang zu einer weiteren Tür, hinter der ein großer, rechteckiger Flur lag. Ein handgeknüpfter Läufer aus Parvan bedeckte das polierte Eichenparkett.
Schweigend führte er sie durch mehrere Gänge, bis Rosalind die Tür erkannte, die zur Bibliothek führte. Er öffnete sie und schloss sie gleich wieder hinter ihnen. Dann wies er auf eines der Porträts, die Sir John ihr schon am Tag ihrer Ankunft gezeigt hatte.
„Wissen Sie, wer dieser Mann ist?" brach er endlich sein Schweigen.
„Ja, es ist Hafzuddin al Jawadi", antwortete Rosalind. „Der ehemalige Sultan von Bagestan, der 1969
durch Ghasib gestürzt wurde."
Najib sah sie an, und sein Gesichtsausdruck machte ihr Angst. „Freut mich, dass Sie ihn erkennen", sagte er trocken. „Sie hassen ihn seit fünf Jahren. Das ist der Mann, der Ihnen jenen Brief geschrieben hat."
7. KAPITEL
„Atmen!" befahl eine tiefe Stimme. „Rosalind, Sie müssen atmen!"
Rosalind öffnete die Augen und erkannte den Brokatstoff des Sessels wieder, der beim Fenster stand.
Najibs Hand lag in ihrem Jacken und drückte ihren Kopf nach vorne zwischen ihre Knie.
Ihre Lungen füllten sich wieder mit Luft. „Ist schon gut", flüsterte sie, und dann energischer: „Ist schon gut!"
Er nahm die Hand von ihrem Nacken, und sie richtete sich auf und sah sich um. Najib stand jetzt neben dem Fenster und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Sein Blick war unergründlich.
„So etwas ist mir noch nie passiert." Rosalind legte eine Hand auf die Stirn. Sie atmete heftig aus und versuchte, mit dem plötzlichen Schmerz hinter ihren Schläfen fertig zu werden. „Sie warten aber auch mit einer Überraschung nach der anderen auf." Sie wies mit dem Kopf auf das Porträt des ehemaligen Sultans. „Ist es wahr, was Sie über ihn gesagt haben?"
„Natürlich ist es wahr", sagte Najib leicht entrüstet. „Weshalb sollte ich lügen?"
„Ich weiß nicht", erwiderte sie. „Ich weiß nicht, wieso all das passiert ist. Ich komme mir vor wie in einem James-Bond-Film." Sie rieb sich den Nacken, der sich durch den Schreck wohl verspannt hatte.
„Warum haben Sie es mir einfach so gesagt, dass Jamshid der Enkel von Sultan Hafzuddin al Jawadi war? Warum sind Sie nicht diplomatischer ..."
„Es tut mir Leid. Ich habe die Situation falsch eingeschätzt."
Plötzlich fiel ihr wieder die intime Szene ein, die sich im Wald abgespielt hatte, und sie wurde entsetzlich verlegen. Nie wieder würde sie an der These zweifeln, dass besondere Orte eine ganz besondere Wirkung haben konnten.
„Wer..." Rosalind hüstelte. „Wer war Jamshid nun wirklich?"
„Sein Geburtsname war Kamil. Er war der einzige Sohn des Kronprinzen Nazim und noch ein Baby, als es zu dem Umsturz kam. Als sein Vater ermordet wurde, wurde er aus dem Land ge schmuggelt und nach Parvan gebracht."
„Er war der Sohn von Prinz Nazim?" hauchte Rosalind. „Er wäre also der nächste ..."
„Ohne diesen Umsturz wäre Prinz Kamil eines Tages Sultan geworden, ja. Es gab viele, die darauf hofften."
„Die Exil-Bagestani", murmelte Rosalind. „Jeder weiß, dass die Bagestani im Westen nur darauf warten, dass die Monarchie wieder hergestellt wird, damit sie zurückkehren können."
Kein Wunder, dass Najib gesagt hatte, Jamshid habe kein Recht gehabt, sie zu heiraten. Sie merkte, dass er an der altmodischen Glocke zog, und einen Augenblick später gab er wie selbstverständlich dem Personal Sir Johns Anweisungen. Natürlich, Najib war ja selbst adlig.
„Sind Sie jetzt der Anwärter auf den Thron des Sultans?" fragte sie.
„Ich? Nein."
„Warum nicht?"
Er zögerte. „Es gibt andere, die mehr Anspruch darauf haben."
„Wären Sie es gerne?" fragte sie neugierig.
„Ich habe nicht den Wunsch, meinem Großvater auf den Thron
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