Ganz oder gar nicht
Trance, jenseits von Angst und Zweifeln, und es erschreckte sie keineswegs, als sie nun eine Bewegung wahrnahm. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten des magischen Steins, eine männliche Gestalt, groß und dunkel. Der Mann sah zu ihr herüber. Sie hatte keine Furcht. War es nicht ganz natürlich, dass das Männliche und das Weibliche zueinander fanden? Hatte nicht ihr Kommen das Erscheinen eines Mannes heraufbeschworen?
Und dann erschrak sie doch - der Mann war Najib al Makhtoum.
Sie wollte losrennen.
Sie wollte bleiben.
Sie wollte schreien.
Sie wollte ihn verführen.
Rosalind konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie wohl die Menschen in uralten Zeiten hier die Große Mutter mit ihren Fruchtbarkeitsriten geehrt hatten, und plötzlich hatte sie den Wunsch, diesen Ritus mit Najib zu wiederholen.
Unbeweglich stand er bei dem hohen Stein. Mit seinem schwarzen Polohemd und seiner tiefbraunen Haut wirkte er sehr dunkel. Dem Glauben der alten Kelten zufolge brachten solch dunkle Männer Glück. Ein dunkelhäutiger Mann sollte in der letzten Nacht des Jahres als Erster die Schwelle des Hauses übertreten, dann würde es ein gutes neues Jahr werden. Und hatte sie nicht von irgendwelchen Überlieferungen gehört, die besagten, dass die Menschen, bevor sie die Rolle des Mannes bei der Fortpflanzung kannten, davon überzeugt gewesen waren, ein dunkelhäutiger Mann würde sowohl die Frau als auch den Boden, auf dem sie sich vereinigten, besonders fruchtbar machen?
Es war, als flüsterten die Götter ihr zu. Als wollten sie sie in Versuchung führen, sich diesem alten Ritual zu unterwerfen, das ihnen so gefiel...
Rosalind drehte sich um und floh.
Barfuss wie sie war, lief sie über das feuchte, üppige Gras. Ihr Verfolger verlor durch den Überraschungseffekt ein paar Sekunden, und sie gewann einen Vorsprung.
Die Götter schwiegen, jedoch nur, um mit Genugtuung die Verfolgungsjagd zu beobachten. So sollte es sein. War es nicht das Recht der Frau, den Mann auf die Probe zu stellen, dem sie sich schenken wollte? Das Laub der Espen zitterte, während sie durch den Wald rannte und rannte. Blüten lösten sich von den Büschen und schmückten ihr Haar. Auch das gehörte zu dem heiligen Ritus ...
Stechpalmen kratzten ihre nackten Schenkel, und das Blut lief an ihrer Haut herab. Das Rascheln des Laubes verriet die Vorfreude der Götter, doch noch immer ließen sie nicht zu, dass der Verfolger sein Ziel erreichte. Er verfing sich im Unterholz. Es sollte nicht zu schnell gehen, die freudige Erwartung noch wachsen, wo es so lange her war, seit die Sterblichen sie mit diesem Ritus beglückt hatten ...
Wie von Furien gehetzt, rannte sie einmal in diese Richtung, dann in eine andere, um es am Schluss doch aufzugeben und wieder zurück auf die Lichtung zu taumeln. Hier war das Gras so weich und dicht, wie geschaffen für das, worauf die Götter warteten ...
Das Unterholz brachte Rosalind zum Stolpern, und sie fiel der Länge nach hin.
Ihr Verfolger war jetzt dicht hinter ihr. Er musste nicht zum Stolpern gebracht werden. Im Nu kniete er neben ihr und nahm sie in die Arme.
Sie wehrte sich mit aller Kraft. Ihr Kleid rutschte dabei hoch bis über die Hüften.
„Hören Sie damit auf!" rief Najib. „Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas anzutun."
Der tiefe Klang seiner Stimme löste ihre Panik. Still blieb Rosalind unter Najib liegen und sah atemlos zu ihm hoch.
„Wie haben Sie mich gefunden?" fragte sie leise keuchend.
Sein Arm lag quer über ihrem Oberkörper, und ihre Brust hob und senkte sich unter seiner Hand.
„Ich habe Sie gefunden, weil ich Sie finden musste", erwiderte er mit heiserem Unterton.
„Nein, Najib", protestierte sie, doch ihre Stimme war ebenso heiser geworden vor Begierde.
Einen Augenblick lang rührten sie sich nicht. Nur das leise Seufzen des Windes war zu hören. Sacht strich er über die Lichtung und blies Blütenblätter in Rosalinds Gesicht. Eines blieb auf ihrer Wange haften, eines auf ihren Lippen. Es kitzelte ihren Mundwinkel, und sie hob die Hand, um es wegzuwischen, aber Najib hielt sie fest.
Langsam, quälend langsam beugte er sich vor und küsste behutsam das Blütenblatt. Eine Woge von Gefühlen durchströmte sie, so stark, dass es fast schmerzte. Sie hielt den Atem an und schloss die Augen.
Er nahm ihren Kopf in die Hand und küsste sie von neuem, so zart, dass sie nicht wusste, war es das Blütenblatt, das sie spürte, oder sein Mund.
Sein Mund oder das Blütenblatt strich
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