Ganz oder gar nicht
ewigen Kampf mit einer un
barmherzigen, kargen Natur? In England war die Natur so üppig, so großzügig. Kein Wunder, dass die alten keltischen Riten Feste der Fruchtbarkeit, des Überflusses und der Sinnesfreuden waren.
Als Rosalind Fußspuren im Sand entdeckte, stieg sie auf einen der bis ins Wasser reichenden Felskämme. Oben blieb sie stehen und betrachtete die Umgebung geradezu ehrfürchtig.
Dies war das raueste, unwirtlichstes Land, das sie je betreten hatte, und doch war es unglaublich schön! Der Strand breitete sich vor ihr aus in einem Panorama von Smaragdgrün, Saphir blau und Rosa-und Ockertönen. Das Licht der untergehenden Sonne ließ alle Farben kurz vor Anbruch der Nacht noch einmal aufleuchten. Es war so schön, dass es fast schmerzte, es anzusehen. Eine leichte Brise spielte mit dem Saum ihres Kle ides, wehte durch ihr Haar und streichelte ihren Hals.
Weiter vorn saßen Najib und Sam auf einem Felsen und schauten in den Sonnenuntergang. Einen Augenblick betrachtete Rosalind wehmütig die Szene. Wie vertrauensvoll sich ihr Sohn, der vor Najib saß, mit dem Rücken an ihn schmiegte.
Schließlich trat sie zu ihnen und lächelte, als beide zu ihr hochblickten. „Hallo."
„Hallo. Hast du gut geschlafen?"
„Wie ein Baby." Sie ließ sich neben Sam nieder und bemerkte mit Bedauern, dass Najib seinen Arm, den er auf den Felsen hinter ihnen gestützt hatte, wegnahm. „Was für ein wundervoller Sonnenuntergang."
„Gott nimmt die Sonne mit, Mommy", erklärte Sam eifrig.
Sie lächelte ihn zärtlich an. „Ach, tatsächlich? Wohin denn?"
„Zu den anderen Kindern, die sie jetzt brauchen", erwiderte er ernsthaft.
Wieder musste sie lächeln. Sie suchte Najibs Blick. „Ich verstehe."
„Alle kleinen Kinder brauchen die Sonne. Deshalb schiebt Gott sie um die ganze weite Welt herum."
Sam streckte seine kleinen Arme aus. „Morgen bringt er sie wieder zurück."
Wie zum Beweis verschwand die Sonne plötzlich im Meer, und fast gleichzeitig stieg hinter ihnen die Nacht herauf.
Natürlich, erinnerte sich Rosalind, hier gibt es keine Dämmerung.
„In Kensington gibt es nicht allzu oft einen Sonnenuntergang zu bewundern", bemerkte Rosalind zu Najib. „Und schon gar nicht so einen wundervollen, als ob sich eine Schale mit flüssigem Gold in den Ozean ergießt."
„Ja", stimmte Najib zu. „Ein Sonnenuntergang in England hat eine andere Art von Schönheit."
Auf einmal war die Nacht da, dunkel und samtig. Mit einem tiefen Seufzer der Zufriedenheit schmiegte Sam sich an seine Mutter, und sie drückte ihn liebevoll an sich.
Still lauschte der kleine Junge dem leisen Gespräch zwischen seiner Mom und Najib, der eine Zeit lang sein Daddy sein würde, so hatten sie gesagt. Das Herz schwoll ihm in der Brust, und er sandte ein Gebet zum Himmel, dass es für immer so bleiben möge.
Die unsichtbaren Fäden der Liebe hielten die drei umfangen, und Sam, der das mit seiner kindlichen Empfindsamkeit, die die Erwachsenen längst verloren hatten, genau spürte, war glücklich wie nie zuvor in seinem Leben.
10. KAPITEL
Najib war froh, dass es nicht lange so bleiben würde. Das Personal behandelte sie wie ein Paar in den Flitterwochen, begeistert von der romantischen Geschichte über eine verlorene und wieder gefundene Liebe.
Rosalind saß ihm gegenüber und aß die Speisen seiner Heimat mit offensichtlichem Genuss. Wenn er nur daran dachte, dass er nachher mit ihr ins Schlafzimmer gehen würde und sich beherrschen müsste, sie nicht anzufassen, sie nicht zu küssen ...
Aber eigentlich schien sie ganz anders zu sein als Maysa. Andererseits wollte er kein Risiko eingehen.
Ob sie zu Jamshid wohl auch gesagt hatte, so wie Maysa zu ihm, Najib, dass er ihr erster Mann gewesen sei? Ob sie Jamshid unter Tränen angefleht hatte, sie zu heiraten, sie nicht allein zu lassen mit der Schande ihrer Schwangerschaft? Im Westen bedeutete eine Schwangerschaft jedoch keine Schande mehr. Es war keine Schmach, eine ledige Mutter zu sein, anders als hier im Orient.
Aber Jamshid hatte sich vielleicht becircen lassen.
Oder vielleicht war er auch zu verrückt nach ihr gewesen, um zu bemerken, dass sie seine Gefühle gar nicht erwiderte.
Vielleicht hatte er sich auch für ihre Schwangerschaft verantwortlich gefühlt..
Jedenfalls war sein Cousin schon immer sehr emotional und impulsiv gewesen.
Nach der Begegnung zwischen Rosalind und Ashraf in Cornwall, bei der sie geschworen hatte, dass der Junge nicht Jamshids Sohn sei, hatten er
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