Garou
Augen machen!«
Sie kramte eine Weile im Schäferwagen herum, dann kehrte sie auf die Stufen zurück, Yves' kleinen Kasten in den Armen. Sie pflanzte ihn auf die oberste Schäferwagenstufe, steckte eine Plastikschnur hinein und drehte an einem Knopf.
Im nächsten Augenblick waren die Schafe ein paar Schritte von den Stufen zurückgewichen und staunten: der Kasten wechselte die Farben und sang!
»Was sagt ihr nun?«, sagte Mama.
Als klar war, dass sich der laute Kasten nicht vom Fleck bewegen würde - vermutlich, weil Mama ihn vorsorglich mit der Plastikschnur angebunden hatte -, wagten sich die Schafe wieder näher und erkannten, dass sich in dem Kasten winzig kleine Menschen bewegten, die mit viel Eifer auf Europäisch quakten. Abgesehen von der wirklich ganz außergewöhnlichen Kleinheit der Menschen war die Sache nicht besonders beeindruckend.
»Man kann ja gar nichts riechen!«, sagte Maude.
Die anderen blökten zustimmend. Ohne Geruch waren die kleinen Europäer im Kasten uninteressant - noch uninteressanter als normalgroße Menschen.
Mama sah ein wenig enttäuscht zu, wie die Schafe sich zerstreuten. Nur Ramses und Ritchfield mochten das neue Unterhaltungsprogramm. Für Ritchfield war es einfach wie ein neues Fenster - ein Fenster, das auch bei Tag leuchtete, und Ramses mochte die Musik. Die Musik machte, dass man sich bei furchterregenden Szenen - etwa Szenen mit Autos - nicht besonders fürchten musste.
Dann verschwanden die Menschen - niemand konnte sehen, wohin -, und Kreise und Vierecke jagten sich durch den Kasten. Anschließend wurde das Programm schlagartig interessanter. Eine Frau ging zu heroischer Musik über einen Gemüsemarkt, dann sah man sie Zucchini und Paprika schnippeln. Einige der Zucchini waren größer als die Menschen von vorhin. Eine Herde enthusiastischer Jungmenschen galoppierte dazu, dann wurde ein kleines buntes Päckchen ins Bild gehalten. Das Gemüseprogramm war viel zu schnell vorbei, aber dafür kamen Schokolade, Brot und ein spannendes Obstprogramm. Gerade als die Schafe begannen, doch noch Gefallen an dem kleinen Kasten zu finden, begann der zu husten und wurde schwarz.
Schuld daran war Mopple. Er hatte den Kasten berochen, um zu sehen, ob man vielleicht von hinten an eine der glänzend grünen Zucchini kommen konnte, und hatte dabei in Gedanken die weiße Plastikschnur angenagt, mit der Mama den Kasten an den Schäferwagen gebunden hatte.
Dem Kasten schien das nicht zu gefallen. Er war schwarz vor Ärger geworden und zeigte keine Zucchini mehr. Alles, was blieb, war ein pelziges Gefühl auf Mopples Zunge.
Die Schafe hatten das viele Kraftfutter endlich halbwegs verdaut und begannen, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre Schäferin wiederbekommen konnten.
Der Himmel wurde dunkler, und ihre Schafe unten auf der Weide guckten Fernsehen.
Rebecca fragte sich, ob sie schon dabei war, verrückt zu werden. Wie schnell ging das? Wie viel Zeit war vergangen? Wann war jetzt?
Zeit war ein seltsames Ding.
Rebecca hätte schwören können, dass sie schon seit Ewigkeiten hier oben im dritten Stock saß. Tage? Wochen? Das Einzige, was dagegen sprach, war das Licht. Als Rebecca zum zweiten Mal in ihrem Metallbett erwacht war, verschwanden gerade die letzten Sonnenflecken vom Parkettfußboden. Früher Nachmittag vielleicht. Und jetzt waren die Schatten lang, und das Blau des Himmels wurde nachdenklicher.
Ein Tag. Ein einziger, endloser Tag und eine viertel Wasserflasche.
Wie hatte der Tag angefangen, draußen, vorher? Mit einem roten Mantel und Maurice in Grün, so viel wusste Rebecca. Der rote Mantel war noch hier. Maurice nicht. Und dann? Der Wald. Und dann? Sie wusste es nicht.
Rebecca blickte hinunter auf ihre Schafe. Neben jedem Schafstand ein Schattenschaf, ungleich schlanker und langbeiniger als das Original. Die Schattenschafe sahen zerbrechlich aus. So nah und so fern. Unerreichbar. Auf einmal hatte Rebecca Angst um sie. Etwas Schreckliches würde da unten mit ihren Schafen passieren, und sie musste hilflos hier oben stehen und zusehen.
Rebecca fürchtete sich mit einer lächerlichen Kleinkinderfurcht vor der Dunkelheit.
»Was ist, wenn die Spaziergänger nicht auf den Häher geschossen haben, weil er der Garou ist?«, fragte Miss Maple. »Ich meine - ist es nicht seltsam? Zuerst fangen sie selbst Rehe und spielen Garou, und auf einmal machen sie Jagd auf ihn?«
Mama saß vor dem Schäferwagen, blickte zum Wald und rauchte unermüdlich Zigaretten.
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