Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garou

Garou

Titel: Garou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
Vom Netzwerk:
wenn diese Spur nicht schon wieder in den Wald geführt hätte.
    Glücklicherweise hielt sich der Ziegenhirt am Waldrand. Irgendwann blieb er stehen und zündete unter einem dicken Kastanienbaum eine Kerze an. Er sagte etwas auf Europäisch. Sehr sanft und sehr freundlich. Die Schafe verstanden nicht, was.
    Dann ging es weiter, bis zu einer Birke. Am Fuße der Birke hatten sich ein Ginster, ein Weißdorn und viele Brombeerranken zu einem perfekten kleinen Versteck verwoben.
    Der Ziegenhirt schlüpfte hinein, und die Schafe blieben in einiger Entfernung hinter einem großen braunen Farn stehen.
    »Wisst ihr, wo wir sind?«, fragte Othello.
    Durch die Büsche hinter ihnen konnte man einen Zaun sehen, der genau wie ihr Weidezaun aussah. Und jenseits des Zauns stand schemenhaft und kauend ein Schaf, das sehr an Mopple the Whale erinnerte, und dahinter, dunkel wie eine Spinne, die Aste der alten Eiche.
    »Das ist unsere Weide!«, sagte Othello, sehr leise und sehr wütend. »Er belauert unsere Weide!«
    »Still!«, flüsterte Miss Maple.
    Die Schafe wichen hinter zwei silbrige Buchenstämme zurück und warteten darauf, dass der Hirt wieder aus seinem Versteck kam.
     
    Mopple hörte auf, in den Wald zu starren, und trabte zurück zum Schäferwagen. Starren half auch nichts. Egal, wie lange man starrte - der Wald wurde nicht grüner. Mopple konnte sich die Zucchini nicht aus dem Kopf schlagen. Es war sehr lange her, dass er etwas so Grünes gesehen hatte, und er wollte hineinbeißen.
    Nach der Sache mit der Plastikschnur hatte Mama den Kasten wieder in den Schäferwagen geräumt. Dann hatte sie geraucht. Dann hatte sie wieder ihre Zigarettenstummel aus dem Schnee gesammelt.
    Dann hatte sie sich in ihren Mantel gewickelt und wollte »den Schnösel zur Rede stellen - koste es, was es wolle!«. Der Gedanke, dass die Sache ihre Wolle kosten konnte, gefiel den Schafen gar nicht, aber glücklicherweise griff Mama nicht zur Schurschere, sondern verschwand durch das Weidetor, Richtung Schloss.
    Die Tür des Schäferwagens ließ sie offen stehen.
    Zum ersten Mal, seit Mopple denken konnte - und Mopple the Whale, das Gedächtnisschaf, konnte länger zurückdenken als alle anderen -, stand die Tür des Schäferwagens offen, und niemand war da.
    Nur ein Schritt. Nur ein Blick. Höchstens eine halbe Zucchini. Eine halbe Zucchini konnte niemandem auffallen. Oder vielleicht doch lieber eine ganze, damit man keine Bissspuren sehen konnte. Zwei! Zwei Zucchini waren vermutlich am unauffälligsten!
    Mopple the Whale holte tief Luft und setzte seinen Huf auf die erste Schäferwagenstufe.
     
    Ein Telefon klingelte.
    Nicht im Raum im dritten Stock, nein, leider, der Raum im dritten Stock war still wie ein Sarg, sondern in Rebeccas Erinnerung. Im Wald. Es war ein Wunder gewesen, dass sie im Wald überhaupt Empfang gehabt hatte.
    Sie war kurz stehen geblieben - und der Ziegenhirt vor ihr war auch stehen geblieben - und hatte abgenommen.
    Es war der Tierarzt gewesen. Ja, sicher, der Tierarzt!
    Er hatte einen Tiertransporter und einen Fahrer gefunden, und der konnte sie morgen abholen - oder vielleicht sogar schon heute Abend. Sie und alle Schafe. Auf einen Pferdegnadenhof! In Sicherheit.
    Rebecca hatte sich gefreut. Vielleicht hatte sie sich ein wenig zu laut gefreut. Hatte der Ziegenhirt sie verstanden? Verstand er ihre Sprache?
    Nein, dachte sie zuerst, aber dann erinnerte sie sich: Hortense hatte ihr einmal gesagt, dass der Ziegenhirt vorher Lehrer gewesen war. Lehrer für alte Sprachen. Vorher. Vor was?
    Sie erinnerte sich, dass sie wieder losgegangen waren, voran der Ziegenhirt, Rebecca hinterher. Schneller diesmal. Vielleicht hatten sie die Richtung geändert.
    Rebecca war sich nicht sicher.
    Und dann? Nichts.
    Was war mit dem Telefon? Rebecca hatte das Telefon in ihrer Manteltasche gehabt. Vielleicht... Nein. Die Taschen waren leer. Natürlich. Wo war ihr Telefon?
     
    Der Ziegenhirt blieb nicht lange in seinem Versteck. Wahrscheinlich hatte er das auch gar nicht vorgehabt. Er machte eher den Eindruck eines Dachses, der kurz zum Bau zurückkommt, um sich zu vergewissern, dass noch alles in Ordnung ist. Dann ging er weiter, seitlich an den Apfelgärten vorbei, wieder auf das Schloss zu. Es dämmerte. Die Fenster des Schlosses glühten von innen, und ferne Stimmen verwoben sich zu einem überraschend insektenhaften Summen. Hier draußen, zwischen den Hofgebäuden, war alles still.
    Der Ziegenhirt blieb vor einer metallenen Tür stehen,

Weitere Kostenlose Bücher