Garou
würde. Aber das Auto fuhr nicht vorbei. Es blieb an der Straße stehen, und ein Mensch stieg aus. Irgendetwas an seiner Witterung ließ Zora schaudern. Sie äugte aus ihrem Tannendickicht und erkannte den Tierarzt, der sich ein paar Schritte von seinem Auto entfernt hatte und nun nervös um einen rohen Holztisch herumlief, der einfach so im Wald stand. Der Holztisch war Zora bisher nicht aufgefallen.
Ausgerechnet der Tierarzt! Zora wich tiefer ins Tannendunkel.
Der Tierarzt ging auf und ab, rauchte, murmelte und schien insgesamt in schlechter Verfassung zu sein. Schließlich blieb er stehen, holte ein Sprechgerät aus seiner Jacke und tippte darauf herum.
Während der Tierarzt in sein Sprechgerät quakte, schlich Zora aus ihrem Versteck, in weitem Bogen um Arzt und Auto herum, nach Hause.
Als Rebecca vom Schloss zurückkam, saß Mama auf den Stufen des Schäferwagens, sah zerknittert aus und rauchte.
»Hallo«, sagte Rebecca und blieb vor dem Schäferwagen stehen.
»Hallo«, sagte Mama etwas zerknirscht. »Ist was passiert?« Rebecca holte tief Luft. »Das kann man wohl sagen! Gib mir auch eine!«
Sie ließ sich eine von Mamas dünnen langen Zigaretten reichen und begann zu erzählen. Von Tess undYves und Malonchot und den Rehen und immer wieder von Tess.
Mama war von Yves' Tod nicht besonders beeindruckt - »Er hatte schlechte Karten«, sagte sie -, aber sie schniefte und schluchzte um Tess.
»Das ist alles meine Schuld!«, heulte sie. »Ich und meine blöde Sauferei.«
Rebecca widersprach nicht.
Mama, die wahrscheinlich auf Widerspruch gehofft hatte, hörte auf zu schniefen und sah Rebecca schräg an.
»Es ist noch was, stimmt's?«
»Was soll denn noch sein?«, fragte Rebecca.
»Irgendwas«, sagte Mama. »Irgendwas ist!«
»Warum ist das Leben nicht mal einfach?«, sagte Rebecca. »Nur so. Zur Abwechslung. Es war ein netter Abend gestern, weißt du. Zuerst... zuerst war er vielleicht wirklich etwas schnöselig, aber dann war es richtig nett. Romantisch sogar. Und auf einmal wurde er unruhig und kurz und seltsam, und ich habe gemerkt, dass er mich loswerden wollte. Es... es passte gar nicht zur Stimmung. Es passte einfach nicht. Und dann lässt er dir doch eine Flasche bringen, und ich finde Tess, und heute erzählt mir Hortense das mit den Rehen! Und erinnerst du dich, was für eine Angst er vor Tess hatte? Und nach all dem, was er mir erzählt hat, hatte er eine ziemlich verkorkste Kindheit. Ich weiß, es geht nicht immer nur um die Kindheit, aber trotzdem. Ich denke ...«
Rebecca wollte nicht sagen, was sie dachte.
»Du solltest das dem Polizisten erzählen«, sagte Mama.
»Malonchot?« Rebecca lachte bitter. »Sicher, er ist nett und freundlich, und er hat uns Vidocq vorbeigebracht, aber eigentlich benutzt er uns als Köder für seinen Garou. Du hättest den heute sehen sollen mit Yves. Er war blendender Stimmung, weil er eine neue Spur hatte. Der wird genauso gut gelaunt sein, wenn er uns aus dem Schnee zieht. Nein, wir müssen hier weg!«
»Keine Sorge, Kind«, sagte Mama. »Wo Dunkel ist, da ist auch Licht.«
Da lag sie natürlich vollkommen falsch. Wo Dunkel war, war eben kein Licht!
»Der Tierarzt hat mich gerade angerufen«, sagte Rebecca. »Er will sich mit mir treffen. Mit mir allein. Im Wald. Na ja, nicht wirklich im Wald, aber an diesem Rastplatz oben an der Straße. Er will nicht auf den Hof kommen. Hat gesagt, es ist wichtig. Klingt komisch, nicht? Aber ich glaube, ich gehe trotzdem. Er soll einen anderen Stall für uns finden! Ich habe lange genug gewartet.«
»Ich komme mit«, sagte Mama.
»Nein«, sagte Rebecca. »Du bleibst hier und passt auf die Schafe auf. Ich habe ihm gesagt, dass du wissen wirst, wo ich hingehe. Ich meine, er wäre doch wirklich dumm, wenn ... Sie würden ihn doch gleich haben.«
»Bist du sicher, dass es wirklich der Tierarzt war?«, fragte Mama.
Rebecca nickte. »Er wartet. Ich gehe. Jetzt gleich.« »Wollen wir nicht lieber erst die Karten ...« »Nein. Wenn ich in einer halben Stunde nicht wieder da bin, rufst du die Polizei!«
Die Schafe, Vidocq und Mama sahen Rebecca nach, wie sie, die braune Brotmütze auf dem Kopf, im Wald verschwand. Dann ging Mama zurück in den Schäferwagen, Vidocq zum Waldrand, und die Schafe konnten sich wieder auf die Suche nach einem Silber machen. Das Silber im Abfalleimer war nun gründlich verloren, irgendwo am Grunde, nachdem Rebecca gestern noch zwei Konservendosen und eine zerknüllte alte Zeitung in
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