Garp und wie er die Welt sah
Schrecken
bekommen, dass sie auf die Straße lief – ohne sich vorher umzuschauen. Was auch
immer geschieht«, sagte Garp, »man darf nicht auf die Straße laufen, ohne sich
vorher umzuschauen, nicht wahr, Walt?«
»Nein«, sagte Walt.
»Nicht einmal, wenn ein Hund
einen beißen will«, sagte Garp. » Niemals. Man läuft nie auf die Straße, ohne sich vorher umzuschauen.«
»Ja sicher, ich weiß«, sagte
Walt. »Was ist mit der Katze passiert?«
Garp klatschte so laut in die
Hände, dass der Junge zusammenzuckte. »Sie wurde überfahren!«, rief Garp.
»Zack! Sie war tot. Man konnte sie nicht wieder zusammenflicken. Ihre Chancen
wären besser gewesen, wenn der Hund sie erwischt hätte.«
»Ein Auto hat sie überfahren?«,
fragte Walt.
»Ein Laster«, sagte Garp, »fuhr
genau über ihren Kopf. Ihr Gehirn spritzte aus ihren alten Ohrlöchern heraus,
wo früher die Ohren gewesen waren.«
»Sie ist plattgewalzt worden?«,
fragte Walt.
»Platt wie eine Briefmarke«,
sagte Garp, und er hielt die Hand waagerecht vor Walts ernstes kleines Gesicht.
Jesus, dachte Helen, es war doch eine Geschichte für Walt. Lauf nicht auf die Straße, ohne dich vorher umzuschauen!
»Das war das Ende«, sagte Garp.
»Gute Nacht«, sagte Walt.
»Gute Nacht«, sagte Garp zu ihm.
Helen hörte, wie sie sich einen Kuss gaben.
[374] » Warum hatte der Hund keinen Namen?«, fragte Walt.
»Ich weiß nicht«, sagte Garp.
»Lauf nicht auf die Straße, ohne dich vorher umzuschauen.«
Als Walt einschlief, liebten Garp
und Helen sich. Helen hatte eine plötzliche Erkenntnis über Garps Geschichte.
»Der Hund konnte den Laster gar
nicht bewegen«, sagte sie. »Nicht einen Millimeter.«
»Stimmt«, sagte Garp. Helen war
sicher, dass Garp tatsächlich dabei gewesen war.
»Wieso hast du ihn dann bewegt?«,
fragte sie ihn.
»Ich konnte es auch nicht«, sagte
Garp. »Er ließ sich nicht vom Fleck bewegen. Also knipste ich ein Glied aus der
Kette des Hundes heraus, nachts, als er im Café Wache hielt, und ging damit in
ein Haushaltswarengeschäft. Am nächsten Abend setzte ich ein paar Glieder ein, die genau gleich waren – ungefähr fünfzehn
Zentimeter.«
»Und die Katze lief gar nicht auf
die Straße?«, fragte Helen.
»Nein, das war nur für Walt«, gab
Garp zu.
»Natürlich«, sagte Helen.
»Die Kette war lang genug«, sagte
Garp. »Die Katze konnte nicht entwischen.«
»Der Hund hat die Katze
umgebracht?«, fragte Helen.
»Er hat sie in zwei Stücke
gebissen«, sagte Garp.
»In einer Stadt in Deutschland?«,
sagte Helen.
»Nein, in Österreich«, sagte
Garp. »Es war in Wien. In Deutschland habe ich nie gelebt.«
»Aber wie kann der Hund im Krieg
gewesen sein?«, fragte Helen. »Dann hätte er ja zwanzig Jahre alt sein müssen,
als du dort warst.«
[375] »Der Hund war nicht im Krieg«,
sagte Garp. »Er war einfach ein Hund. Sein Besitzer war im Krieg gewesen – der Mann, dem das Café gehörte. Deshalb wusste er, wie
man Hunde abrichtet. Er richtete ihn darauf ab, jeden zu töten, der in das Café
spaziert kam, wenn es draußen dunkel war. Wenn es draußen hell war, konnte
jeder hereinkommen; wenn es dunkel war, konnte nicht einmal sein Herr und
Meister rein.«
»Wie nett!«, sagte Helen. »Und
wenn Feuer ausgebrochen wäre? Diese Methode scheint mir doch einige Nachteile
zu haben.«
»Es war offenbar eine
Kriegsmethode«, sagte Garp.
»Jedenfalls«, sagte Helen, »ist das
eine bessere Geschichte, als wenn der Hund im Krieg
gewesen wäre.«
»Findest du wirklich?«, fragte
Garp. Zum ersten Mal während ihres Gesprächs, so schien ihr, war er ganz bei
der Sache. »Das ist interessant«, sagte er, »weil ich es nämlich eben erst erfunden
habe.«
»Dass der Besitzer im Krieg
war?«, fragte Helen.
»Und noch ein bisschen mehr«, gab
Garp zu.
»Welchen Teil der Geschichte hast
du erfunden?«, fragte Helen.
»Alles«, sagte er. Sie lagen
zusammen im Bett, und Helen lag still da – sie wusste, dass das ein heikler
Augenblick für ihn war.
»Sozusagen fast alles«, fügte er hinzu.
Garp verlor nie die Lust an
diesem Spiel, während Helen es längst leid war. Er würde darauf warten, dass
sie fragte: Was davon? Was davon ist wahr, was ist
erfunden? Dann würde er ihr sagen, das spielte keine Rolle, sie solle ihm nur [376] sagen,
was sie nicht glaube , und die Teile würde er dann
verändern. Alle Teile, die sie glaubte, waren wahr; alle Teile, die sie nicht
glaubte, mussten überarbeitet werden. Wenn sie alles
Weitere Kostenlose Bücher