Garp und wie er die Welt sah
glaubte, dann war alles
wahr. Als Geschichtenerzähler kannte er kein Erbarmen, das wusste Helen. Wenn
die Wahrheit zur Geschichte passte, enthüllte er sie ohne jede Hemmung, und
wenn irgendeine Wahrheit sich in eine Geschichte nicht recht einfügte,
veränderte er sie bedenkenlos.
»Wenn du lang genug Katz und Maus
gespielt hast«, sagte sie, »würde ich gern noch hören, was in Wirklichkeit geschah.«
»Oh, in Wirklichkeit«, sagte
Garp, »war der Hund ein Beagle.«
»Ein Beagle!«
»Also eigentlich ein Schnauzer.
Und er war den ganzen Tag in dem Durchgang
angebunden, aber nicht an einem Militärlastwagen.«
»An einem Volkswagen?«, rief
Helen.
»An einem Müllschlitten«, sagte
Garp. »Mit dem Schlitten wurden die Mülltonnen im Winter zum Bürgersteig
gezogen, aber der Schnauzer war natürlich zu klein und schwach, um ihn zu
ziehen – in jeder Jahreszeit.«
»Und der Cafébesitzer?«, fragte
Helen. »War er nicht im Krieg gewesen?«
»Sie«, sagte Garp. »Sie war Witwe.«
»Ist ihr Mann im Krieg ums Leben
gekommen?«, riet Helen.
»Sie war eine junge Witwe«, sagte Garp. »Ihr Mann kam ums Leben, als er über die
Straße ging. Sie hing sehr an dem [377] Hund. Ihr Mann hatte ihn ihr zum ersten
Hochzeitstag geschenkt. Aber ihre neue Hauswirtin verbot das Halten von Hunden
in der Wohnung, so dass die Witwe den Hund nachts im Café herumlaufen ließ.
Es war ein unheimlicher, leerer
Raum, und der Hund war da drin immer sehr nervös; er kackte die ganze Nacht.
Die Leute blieben stehen und schauten durchs Fenster und lachten über die
vielen Hundehaufen. Das Lachen machte den Hund noch nervöser, so dass er noch
mehr kackte. Morgens kam die Witwe immer sehr früh – um den Raum zu lüften und
die Haufen zu entfernen –, und sie verdrosch den Hund mit einer Zeitung und
zerrte ihn hinaus in den Durchgang, wo er dann den ganzen Tag an dem
Müllschlitten angebunden war.«
»Und es gab keine Katze?«, fragte
Helen.
»Oh, es gab haufenweise Katzen«,
sagte Garp. »Sie kamen wegen der Mülleimer des Cafés in den Durchgang. Der Hund
rührte die Abfälle nie an, weil er Angst hatte vor der Witwe, und vor Katzen
hatte der Hund eine Sterbensangst – jedes Mal wenn
eine Katze in dem Durchgang war und die Mülleimer plünderte, kroch der Hund
unter den Müllschlitten und versteckte sich dort, bis die Katze wieder weg
war.«
»Mein Gott«, sagte Helen. »Also
hat ihn auch niemand geärgert?«
»Irgendjemand ärgert einen
immer«, sagte Garp mit ernster Stimme. »Da war ein kleines Mädchen, das kam oft
an dem Durchgang vorbei und blieb dann immer stehen und lockte den Hund auf den
Bürgersteig, nur dass die Kette des Hundes nicht bis zum Bürgersteig reichte.
Und [378] der Hund kläffte das kleine Mädchen an: ›Wau! Wau!‹ Und das Mädchen
stand auf dem Bürgersteig und rief: ›Komm, komm doch!‹ Bis jemand ein Fenster
öffnete und das Mädchen anschrie, es solle den armen Köter in Ruhe lassen.«
»Du bist dabei gewesen?«, fragte
Helen.
» Wir sind dabei gewesen«, sagte Garp. »Meine Mutter saß jeden Tag in einem Zimmer
und schrieb, und das einzige Fenster dieses Zimmers ging auf den Durchgang
hinaus. Das Hundegebell brachte sie zum Wahnsinn.«
»Also hat Jenny den Müllschlitten weggeschoben«, sagte Helen, »und der Hund hat
das kleine Mädchen aufgefressen, und die Eltern des
kleinen Mädchens sind zur Polizei gegangen, die den Hund einschläfern ließ. Und du warst natürlich ein großer Trost für die trauernde
Kriegerwitwe, die damals vielleicht Anfang vierzig war.«
»Ende dreißig«, sagte Garp. »Aber
so ist es nicht gewesen.«
»Wie denn?«, fragte Helen.
»Eines Nachts bekam der Hund im
Café einen Schlaganfall«, sagte Garp. »Mehrere Leute behaupteten, sie seien es
gewesen, sie hätten den Hund zu Tode erschreckt. Es gab in dieser Beziehung
einen regelrechten Wettbewerb in dem Viertel. Die Leute schlichen sich an das
Café heran und sprangen dann plötzlich gegen die Fenster und Türen und
kreischten wie riesige Katzen, so dass der verängstigte Hund wie verrückt
kackte.«
»Ich hoffe, der Hund ist an dem
Schlaganfall gestorben «, sagte Helen.
»Nicht ganz«, sagte Garp. »Nach
dem Schlaganfall war das Hinterteil des Hundes gelähmt, so dass er nur noch
sein [379] Vorderteil bewegen und mit dem Kopf wackeln konnte. Die Witwe klammerte
sich jedoch an das Leben des unseligen Hundes, wie sie sich an die Erinnerung
an ihren seligen Gatten klammerte, und sie ließ einen
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