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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ihrem üblichen Interesse und ihrer üblichen
Anteilnahme. Wie so viele der Geschichten, die Garp den Kindern erzählte,
begann auch diese wie eine Geschichte für Kinder und endete wie eine
Geschichte, die Garp für Garp erfunden zu haben schien. Man könnte vielleicht
meinen, dass Schriftstellerkinder mehr Geschichten vorgelesen bekommen als
andere Kinder, aber Garp zog es vor, dass seine Kinder nur seinen Geschichten zuhörten.
    »Es war einmal ein Hund«, sagte
Garp.
    »Was für ein Hund?«, fragte Walt.
    »Ein großer Schäferhund«, sagte
Garp.
    »Wie hieß er?«, fragte Walt.
    »Er hatte keinen Namen«, sagte
Garp. »Er lebte in einer Stadt in Deutschland, nach dem Krieg.«
    »Nach welchem Krieg?«, sagte
Walt.
    »Nach dem Zweiten Weltkrieg«,
sagte Garp.
    »Ach so«, sagte Walt.
    »Der Hund war im Krieg gewesen«,
sagte Garp. »Er war Wachhund gewesen, er war also sehr wild und sehr schlau.«
    [365]  »Sehr böse «,
sagte Walt.
    »Nein«, sagte Garp, »er war nicht
böse, und er war nicht lieb, nur manchmal war er beides. Er war so, wie sein
Herr ihn abrichtete, weil er darauf abgerichtet war, alles zu tun, was sein
Herr ihm befahl.«
    »Wie hat er gewusst, wer sein
Herr war?«, fragte Walt.
    »Ich weiß nicht«, sagte Garp.
»Nach dem Krieg bekam er einen neuen Herrn. Dieser Herr hatte ein Café in der
Stadt; man konnte dort Kaffee und Tee und andere Getränke bekommen und Zeitung
lesen. Abends ließ der Herr eine Lampe brennen, so dass man in die Fenster
schauen und die abgewischten Tische mit den Stühlen sehen konnte, die mit der
Sitzfläche auf die Tischplatten gestellt wurden. Der Fußboden war
blankgewienert, und der große Hund trottete jeden Abend auf dem Fußboden hin
und her. Er war wie ein Löwe in seinem Käfig im Zoo, er stand nie still.
Manchmal sahen die Leute ihn und klopften ans Fenster, um seine Aufmerksamkeit
zu erregen. Der Hund starrte sie nur an – er bellte nicht, er knurrte nicht
einmal. Er blieb nur stehen und starrte den Betreffenden an, bis er wieder
wegging. Man hatte das Gefühl, wenn man zu lange bliebe, könnte der Hund einen
durchs Fenster anspringen. Aber er tat es nie; er tat übrigens nie etwas, weil
nachts nie jemand in das Café einbrach. Es reichte, dass der Hund da war – der
Hund brauchte nie etwas zu tun .«
    »Weil der Hund sehr böse aussah «, sagte Walt.
    »Jetzt hast du es erfasst«, sagte
Garp. »Für den Hund war jede Nacht gleich, und tagsüber war er immer in einem
Durchgang neben dem Café angebunden. Er war an einer langen Kette angebunden,
die an der Vorderachse eines [366]  alten Militärlasters festgemacht war, den man
rückwärts in den Durchgang gesetzt und dort stehengelassen hatte – für immer.
Der Laster hatte keine Räder mehr.«
    »Du weißt doch, was
Hohlblocksteine sind«, fuhr Garp fort. »Auf solchen Steinen war der Laster
aufgebockt, damit er keinen Zentimeter auf seinen Achsen weiterrollen konnte.
Zwischen dem Laster und der Erde war gerade so viel Platz, dass der Hund unter
den Laster kriechen und sich hinlegen konnte, um sich vor Regen und Sonne zu
schützen. Die Kette war gerade lang genug, dass der Hund bis ans Ende des
Durchgangs gehen und die Leute auf dem Bürgersteig und die Autos auf der Straße
beobachten konnte. Wenn man den Bürgersteig entlangkam, konnte man manchmal die
Nase des Hundes aus dem Durchgang hervorlugen sehen – so weit reichte die
Kette, und nicht weiter.
    Man konnte dem Hund die Hand
hinhalten, dann beschnupperte er einen, aber er ließ sich nicht gern anfassen,
und er leckte einem nie die Hand, wie manche Hunde es tun. Wenn man versuchte,
ihn zu streicheln, duckte er den Kopf und trottete in den Durchgang zurück. Die
Art und Weise, wie er einen anstarrte, gab einem das Gefühl, es sei keine sehr
gute Idee, ihm in den Durchgang hinein zu folgen oder ihn unbedingt streicheln
zu wollen.«
    »Er würde einen beißen«, sagte
Walt.
    »Nun, da konnte man nicht sicher
sein«, sagte Garp. »Er biss nämlich nie jemanden, das heißt, falls er je
jemanden gebissen hat, ist es mir zumindest nicht zu Ohren gekommen.«
    »Du bist dabei gewesen?«, sagte
Walt.
    [367]  »Ja«, sagte Garp – er wusste,
dass der Erzähler der Geschichte immer »dabei« gewesen war.
    »Walt!«, rief Helen. (Es
irritierte Garp, dass sie die Geschichten, die er den Kindern erzählte,
mithörte.) »Das ist gemeint, wenn jemand von einem ›Hundeleben‹ spricht«, rief
Helen.
    Doch weder Walt noch sein Vater
schätzten ihre Unterbrechung.

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