Garp und wie er die Welt sah
Garp. Helen
spürte, wie sie das Interesse an der Geschichte verlor. Sie hatte einen so
offensichtlichen Schluss. Sie sagte nichts.
»Weiter«, sagte Walt. Kindern
eine Geschichte zu erzählen bestand, wie Garp wusste, nicht zuletzt darin,
ihnen eine Geschichte mit einem offensichtlichen Schluss zu erzählen (oder auch
nur so zu tun).
»Eines Tages«, sagte Garp,
»dachten alle, der Hund habe endgültig den Verstand verloren. Einen ganzen Tag
lang kam er immer und immer wieder unter seinem Laster hervorgerannt und lief
bis ans Ende des Durchgangs, bis die Kette ihn zurückriss. Selbst wenn die
Katze nicht da war, sauste der Hund durch den Durchgang, warf sich mit seinem
ganzen Gewicht gegen die Kette und kippte nach hinten. Das erschreckte einige
der Leute, die auf dem Bürgersteig gingen, besonders die Leute, die den Hund
auf sich zukommen sahen und nichts von der Kette wussten.
An dem Abend war der Hund so
müde, dass er nicht im Café hin und her lief; er lag auf dem Fußboden und
schlief, als wäre er krank. In dieser Nacht hätte jeder in das Café einbrechen
können; ich glaube nicht, dass der Hund aufgewacht wäre. Und am nächsten Tag
machte er das Gleiche wieder, obwohl man wusste, dass sein Hals ganz wund war,
weil er jedes Mal, wenn ihm die Kette den Boden unter den Füßen wegriss, laut
aufjaulte. Und in dieser Nacht schlief [371] er in dem Café wie ein toter Hund,
der dort ermordet auf dem Fußboden lag.
Sein Herr ließ einen Tierarzt
kommen«, sagte Garp, »und der Tierarzt gab dem Hund ein paar Spritzen – ich
nehme an, um ihn zu beruhigen. Zwei Tage lang lag der Hund nachts auf dem
Fußboden des Cafés und tagsüber unter dem Laster, und selbst wenn die Katze auf
dem Bürgersteig vorbeispazierte oder sich am Ende des Durchgangs hinsetzte und
putzte, rührte der Hund sich nicht. Der arme Hund«, fügte Garp hinzu.
»Er war traurig«, sagte Walt.
»Glaubst du aber, dass er schlau war?«, fragte Garp.
Walt war verwirrt, aber er sagte.
»Ich glaube, ja.«
»Er war schlau«, sagte Garp,
»denn als er die ganze Zeit gegen die Kette angerannt war, hatte er den Laster,
an dem er festgebunden war, nach vorn bewegt – nur ein ganz kleines Stück.
Obwohl der Laster dort seit Jahren aufgebockt war, obwohl er an den Blöcken
festgerostet war und obwohl die Häuser ringsum hätten einstürzen können, ohne
dass der Laster sich von der Stelle gerührt hätte – trotzdem «,
sagte Garp, » bewegte der Hund den Laster nach vorn.
Nur ein ganz kleines Stück.
Glaubst du, dass der Hund den
Laster weit genug bewegt hat?«, fragte Garp.
»Ich glaube, ja«, sagte Walt.
Helen glaubte es auch.
»Er brauchte nur ein paar
Zentimeter, um die Katze zu erwischen«, sagte Garp. Walt nickte. Helen
vertiefte sich, des blutrünstigen Ausgangs gewiss, wieder in den Ewigen Gatten.
»Eines Tages«, sagte Garp
langsam, »kam die Katze und [372] setzte sich am Ende des Durchgangs auf den
Bürgersteig und fing an, sich die Pfoten zu lecken. Sie rieb sich mit den
Pfoten in den alten Ohrlöchern, wo die Ohren gewesen waren, und sie rieb sich
mit den Pfoten das zugewachsene Augenloch, wo früher das andere Auge gewesen
war, und sie starrte den Hund unter dem Laster an. Die Katze langweilte sich
allmählich, weil der Hund nicht mehr hervorkam, und dann kam der Hund doch
hervor.«
»Ich glaube, der Laster hatte
sich genug bewegt«, sagte Walt.
»Der Hund lief schneller durch
den Durchgang als je zuvor, so dass die Kette hinter ihm über der Erde tanzte,
und die Katze rührte sich nicht vom Fleck, obwohl der Hund sie diesmal erreichen konnte. Nur«, sagte Garp, »dass die
Kette nicht ganz reichte.« Helen stöhnte. »Der Hund war mit dem Maul über dem
Kopf der Katze, aber die Kette würgte ihn so heftig, dass er das Maul nicht
schließen konnte. Der Hund röchelte und wurde zurückgerissen – wie vorher –,
und die Katze, die begriff, dass sich etwas verändert hatte, sprang weg.«
»Mein Gott!«, rief Helen.
»O nein«, sagte Walt.
»Natürlich lässt sich eine Katze
nicht zweimal so hereinlegen«, sagte Garp. »Der Hund hatte eine Chance gehabt,
und er hatte sie vertan. Die Katze würde ihn nie wieder nah genug herankommen
lassen.«
»Was für eine schreckliche
Geschichte!«, rief Helen.
Walt, der schwieg, sah aus, als
sei er der gleichen Meinung.
»Aber es passierte etwas anderes «, sagte Garp. Walt [373] blickte interessiert auf.
Helen hielt wütend wieder den Atem an. »Die Katze hatte einen solchen
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