Garp und wie er die Welt sah
glaube nicht, dass ich die Kinder gesehen habe. Warum? «
»Weil Sie sie beinahe
umgebracht haben«, sage ich.
»Aber ich habe sie doch gar
nicht gesehen !«, protestiert der Raser.
»Sie sind zu schnell
gefahren, um sie zu sehen!«, sage ich dann. Ich schleudere es diesen Rasern ins
Gesicht, als als hätte ich sie damit ihrer Schuld überführt; ich spreche diesen
Satz so aus, als wäre er ein unumstößliches Indiz. Und sie sind jedes Mal
verunsichert. So gut habe ich diesen Teil einstudiert. Der Schweiß von meinem
schnellen Spurt tropft unterdessen von meinem Schnurrbart und von der
Kinnspitze und läuft in Streifen an der Fahrertür hinunter. Sie wissen, nur ein
Vater, der sich wirklich um seine Kinder sorgt, würde so behämmert starren,
hätte so einen fürchterlichen Schnurrbart.
[446] »Es tut mir leid«, sagen
sie gewöhnlich.
»Dies ist ein Viertel voller
Kinder«, sage ich dann immer. »Es gibt andere Gegenden, wo Sie schnell fahren
können, nicht wahr? Bitte rasen Sie hier nie wieder – um unserer Kinder
willen!« Meine Stimme ist dabei nie unangenehm; sie ist immer flehend. Aber sie
sehen, dass hinter meinen großen tränenden Augen ein Fanatiker steckt, der sich
nur mühsam beherrscht.
Meistens ist der Raser ein
junger Mann. Diese Knaben haben das Bedürfnis, sich ein bisschen auszutoben,
und zwar im hektischen Takt der Musik in ihren Autoradios. Ich erwarte auch gar
nicht, dass sie sich ändern. Ich hoffe nur, dass sie in Zukunft anderswo rasen.
Ich gestehe ihnen ja zu, dass die Landstraße ihnen gehört; wenn ich dort
trainiere, bleibe ich bescheiden am Straßenrand. Ich laufe in dem Zeug auf dem
unbefestigten Seitenstreifen, auf dem heißen Sand und dem Kies, in den Bierflaschenscherben – über die plattgewalzten Katzen, die verstümmelten Vögel, die geplatzten
Kondome. Aber in meinem Viertel ist das Auto nicht König – noch nicht.
Meist lernen sie es.
Nach meinem Fünfmeilenlauf
mache ich fünfundfünfzig Liegestütze, dann fünf Hundertmetersprints, dann
fünfundfünfzig Kerzen, dann fünfundfünfzig Brücken. Nicht dass ich so viel auf
die Zahl fünf gebe; es ist nur so, dass anstrengende geistlose Tätigkeiten
leichter sind, wenn man dabei immer bis zur gleichen Zahl zählen kann. Nach dem
Duschen (um fünf Uhr) erlaube ich mir am späten Nachmittag und im Laufe des
Abends fünf Bier.
[447] Nachts gehe ich nicht auf
Autojagd. Kinder sollten nachts nicht draußen spielen, weder in unserem noch in
irgendeinem anderen Viertel. Nachts ist das Auto König in der modernen Welt.
Auch in den Vororten.
Nachts verlasse ich ohnehin
nur selten das Haus und lasse auch meine Familie nicht vor die Tür. Aber einmal
ging ich hinaus, weil offenkundig ein Unfall passiert war – die Dunkelheit
wurde plötzlich von Scheinwerfern durchbohrt, die senkrecht nach oben zeigten
und explodierten; knirschendes Metall und berstendes Glas zerrissen die Stille.
Nur ein paar Häuser weiter in unserer dunklen Straße lag ein Landrover mit dem
Dach nach unten genau in der Mitte der Fahrbahn und verblutete: Sein Öl und
Benzin bildeten eine so tiefe, stille Lache, dass sich der Mond darin
spiegelte. Das einzige Geräusch war das Ping der
Hitze in den heißen Rohren und dem erstorbenen Motor. Der Landrover sah aus wie
ein von einer Tellermine umgeworfener Panzer. Große Dellen und Kerben im
Straßenbelag zeigten, dass sich der Wagen mehrmals überschlagen hatte, ehe er
liegen geblieben war.
Die Tür an der Fahrerseite
ließ sich nur einen Spaltbreit öffnen, aber genug, dass wie durch ein Wunder
die Innenbeleuchtung anging. Am Steuer saß aufrecht – mit dem Kopf nach unten
und immer noch am Leben – ein dicker Mann. Er sah unverletzt aus. Seine
Schädeldecke drückte sanft auf den Wagenhimmel, der jetzt natürlich der Boden
war, aber der Mann schien sich seines veränderten Blickwinkels kaum bewusst zu
sein. Er wirkte verwirrt, hauptsächlich wegen der großen braunen [448] Bowlingkugel,
die, wie ein zweiter Kopf, neben seinem Kopf lag; er befand sich Wange an Wange
mit dieser Bowlingkugel, deren Berührung er vielleicht so empfand wie den
abgetrennten Kopf einer Geliebten, der vorher an seiner Schulter geruht hatte.
»Bist du’s, Roger?«, fragte
der Mann. Ich hätte nicht sagen können, ob er mit mir oder mit der Kugel
sprach.
»Nein, Roger ist es nicht«,
antwortete ich – für uns beide.
»Dieser Roger ist ein
Trottel«, erläuterte der Mann. »Wir haben nämlich unsere Kugeln
Weitere Kostenlose Bücher