Garp und wie er die Welt sah
eine Entscheidung traf. Gelegentlich fragte sie sich auch, ob er sich
erfrechen würde, auf seine ursprüngliche Antwort in ihrem Fragebogen
zurückzukommen, aber sie glaubte es nicht. Möglicherweise wussten sie beide,
dass er es nicht nötig haben würde – dass sie am Zuge war. Er würde ihr zeigen,
wie erwachsen er war, indem er Geduld bewies – während Helen ihn vor allem
anderen überraschen wollte.
[440] Doch unter all diesen für sie
neuen Gefühlen war auch eins, das ihr missfiel; sie war es absolut nicht
gewohnt, sich schuldig zu fühlen – denn Helen Holm hatte immer das Gefühl, dass
alles, was sie tat, richtig sei, und sie wollte sich auch in dieser Sache
schuldlos fühlen. Sie spürte, dass sie diesen inneren Zustand der
Schuldlosigkeit beinahe erreicht hatte, wenn auch noch nicht ganz; noch nicht.
Letztlich sollte Garp ihr zu dem
notwendigen Gefühl verhelfen. Vielleicht spürte er, dass er Konkurrenz hatte;
Garp hatte aus einer Art Konkurrenzbewusstsein als Schriftsteller angefangen,
und nun sollte er seine Schreibblockade aus einem ähnlichen Konkurrenzdrang
heraus überwinden.
Helen, das wusste er, las einen anderen. Garp kam nicht auf die Idee, dass es
möglicherweise um mehr als nur Literatur ging, aber er sah mit der typischen
Eifersucht des Schriftstellers, dass die Worte eines
anderen sie nachts wach hielten. Garp hatte Helen ursprünglich mit der Pension Grillparzer umworben. Und nun riet ihm eine innere
Stimme, sie erneut zu umwerben.
So brauchbar das Umwerben von
Helen einst als Antrieb gewesen war, um als junger Schriftsteller mit dem
Schreiben anzufangen, so fragwürdig war es das jetzt,
da es ums Weiterschreiben ging – besonders nach einer so langen Pause.
Vielleicht hatte er diese
Übergangsphase gebraucht, um alles zu überdenken, neuen Stoff zu fassen und
ganz im Stillen ein neues Buch vorzubereiten. Irgendwie spiegelte die neue
Geschichte, die er für Helen schrieb, die erzwungenen und unnatürlichen
Umstände ihrer Zeugung. Die Geschichte entstand weniger aus einer ehrlichen
Reaktion [441] auf die komplex mäandernden Innereien des Lebens, sondern aus dem
Bedürfnis des Autors, seiner Ängste Herr zu werden.
Womöglich war es eine notwendige
Übung für einen Schriftsteller, der zu lange nichts mehr geschrieben hatte,
aber Helen empfand es als Zumutung, dass Garp ihr jetzt eine neue Geschichte zu
lesen geben wollte. »Endlich habe ich etwas fertiggeschrieben«, sagte er. Es
war nach dem Abendessen; die Kinder schliefen schon; Helen wollte mit ihm ins
Bett gehen – sie wollte ausführlich und beruhigend geliebt werden, weil sie nun
am Schluss des letzten Textes von Michael Milton angelangt war; es gab nichts
Neues mehr, was sie lesen konnte oder worüber sie reden konnten. Sie wusste,
dass sie sich nicht die geringste Enttäuschung über das Manuskript, das Garp
ihr gab, anmerken lassen durfte, aber ihre Müdigkeit überwältigte sie, und sie
starrte gequält darauf, während sie sich entmutigt über einen Berg schmutziges
Geschirr beugte.
»Ich spüle allein«, erbot sich
Garp, um ihr den Einstieg in seine Geschichte zu erleichtern. Ihr sank das Herz;
sie hatte zu viel gelesen. Sex oder zumindest
Zärtlichkeit war das Thema, bei dem sie jetzt angelangt war; entweder schnitt
Garp es an, oder Michael Milton würde es tun.
»Ich möchte geliebt werden«,
sagte Helen. Garp räumte das Geschirr ab wie ein Kellner, der mit einem guten
Trinkgeld rechnet.
»Lies erst die Geschichte,
Helen«, sagte er lachend. » Dann wird gebumst.«
Sie hatte etwas gegenGarps Prioritäten. Man konnte Garps Schreiben nicht mit Michael Miltons Studenten [442] arbeiten vergleichen; so begabt Michael
Milton, verglichen mit ihren anderen Studenten, auch war, so wusste Helen doch
auch, dass er, was das Schreiben betraf, sein Leben lang Student bleiben würde.
Das Problem ist nicht das Schreiben, das Problem bin ich, dachte Helen; ich
möchte beachtet werden. Garps Art, um sie zu werben, empfand sie plötzlich als
beleidigend. Denn der Gegenstand seines Werbens war
im Grunde nicht sie, sondern Garps Schreiben. Das ist nicht unser gemeinsames
Thema, dachte Helen. Wegen Michael Milton war Helen, was die angesprochenen
oder unterschwelligen Themen zwischen zwei Menschen betraf, Garp weit voraus.
»Wenn die Menschen sich nur sagen würden, was sie beschäftigt«, hatte Jenny
Fields geschrieben – eine blauäugige, aber verzeihliche Illusion; sowohl Garp
als auch Jenny wussten, wie schwer es für
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