Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
die Menschen war, das zu tun.
    Garp spülte vorsichtig das
Geschirr und wartete darauf, dass Helen seine Geschichte las. Helen – die
Lehrmeisterin – nahm unwillkürlich ihren Rotstift aus der Tasche und fing an. So sollte sie meine Geschichte nicht lesen, dachte Garp; ich bin nicht einer ihrer Studenten. Aber er fuhr
schweigend fort, das Geschirr zu spülen. Er merkte, dass sie nicht aufzuhalten
war.
    T.S. Garp
Wachsamkeit
    Wenn ich meine täglichen
fünf Meilen laufe, begegne ich oft klugscheißerischen Autofahrern, die ein
Stück neben [443]  mir herfahren und (von ihrem sicheren Fahrersitz aus) fragen:
»Wofür trainieren Sie denn?«
    Tiefes und regelmäßiges
Atmen ist das Geheimnis; ich bin selten außer Atem; ich keuche oder japse nie,
wenn ich antworte. »Ich halte mich in Form, um Jagd auf Autos zu machen«, sage
ich.
    An diesem Punkt gehen die
Reaktionen der Automobilisten weit auseinander; es gibt unterschiedliche Grade
von Dummheit, wie es bei allem Abstufungen gibt. Sie begreifen natürlich nie,
dass ich nicht sie meine – ich halte mich nicht in Form, um Jagd auf ihr Auto zu machen; wenigstens nicht draußen auf offener
Straße. Dort lasse ich sie in Ruhe, obwohl ich es manchmal durchaus mit ihnen
aufnehmen könnte. Und ich laufe auch nicht auf der Fahrbahn, um Aufmerksamkeit
zu erregen, wie manche von ihnen glauben.
    In meinem Viertel ist kein
Platz zum Laufen. Man muss die Vororte hinter sich lassen, wenn man auch nur
Mittelstrecken laufen will. Da, wo ich wohne, stehen an jeder Kreuzung vier
Stoppschilder; die Straßenzüge sind kurz, und die rechtwinkligen Ecken sind ein
Problem für meine Fußballen. Außerdem stolpert man auf den Bürgersteigen über
Kinderspielzeug, wird von Hunden bedroht oder von Rasensprengern bespritzt. Und
gerade wenn man einmal genug Platz zum Laufen hat, kommt einem ein älterer
Mensch entgegen, der unsicher an Krücken oder knarrenden Handstöcken geht und
den ganzen Bürgersteig beansprucht. So jemandem kann man nicht guten Gewissens
»Bahn frei!« zurufen. Selbst wenn ich in sicherer Entfernung, aber meinem
üblichen Tempo [444]  an ihnen vorbeilaufe, scheint sie das zu beunruhigen; und ich
habe nicht die Absicht, Herzanfälle auszulösen.
    Deshalb trainiere ich
draußen auf der Landstraße, aber ich trainiere für unseren Vorort. Bei meiner Kondition bin ich in unserer Gegend selbst einem
Raser gewachsen. Wenn sie an den Stoppschildern auch nur halbherzig anhalten,
können sie nicht über achtzig kommen, ehe sie an der nächsten Kreuzung wieder
bremsen müssen. Ich hole sie immer ein. Ich kann über Rasenflächen, über
Veranden, unter Schaukeln hindurch und durch Kinderplanschbecken laufen; ich
kanndurch Hecken brechen oder über Zäune
hinwegspringen. Und da mein Motor leise – und
regelmäßig und immer startbereit – ist, kann ich hören, wenn andere Autos kommen; ich brauche nicht an den
Stoppschildern anzuhalten.
    Am Ende hole ich sie ein und
winke sie zu mir an den Straßenrand herüber; sie halten immer. Zwar bin ich
ohne Zweifel in einer eindrucksvollen Kondition für die Autojagd, doch das ist
es nicht, was die Raser einschüchtert. Nein – es ist vielmehr die Tatsache,
dass ich Vater bin, weil sie fast immer jung sind. Ja, was ernüchternd wirkt,
ist mein Status als Vater. Ich fange immer ganz einfach an. »Haben Sie dahinten
meine Kinder gesehen?«, frage ich sie laut und besorgt. Eingefleischte Raser
überkommt bei einer solchen Frage die Angst, sie könnten meine Kinder
überfahren haben. Sie gehen unverzüglich in die Defensive.
    »Ich habe zwei kleine
Kinder«, erzähle ich ihnen. Und ich spreche mit bewusst dramatischer Stimme –
die ich bei diesem Satz ein klein wenig beben lasse. Es ist, als [445]  hielte ich
Tränen oder unaussprechlichen Zorn oder beides zurück. Vielleicht denken sie,
ich jagte einen Kindsentführer oder ich verdächtigte sie der Unsittlichkeit mit
Kindern.
    »Was ist denn passiert?«,
fragen sie unweigerlich.
    »Sie haben nicht etwa meine
Kinder gesehen, oder?«, frage ich. »Einen kleinen Jungen, der ein kleines
Mädchen in einem roten Wagen hinter sich herzieht…« Das ist natürlich eine
Erfindung. Ich habe zwei Jungen, und so klein sind sie auch nicht mehr;
außerdem haben sie keinen Wagen. Sie sehen in dem Augenblick vielleicht gerade
fern, oder sie fahren im Park Fahrrad – in Sicherheit, weil es dort keine Autos
gibt.
    »Nein«, sagt der verwirrte
Raser. »Ich habe zwar Kinder gesehen, einige Kinder.
Aber ich

Weitere Kostenlose Bücher