Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
die ganze Zeit diesen
scheußlichen Dehnapparat benutzen musste, damit meine Vagina sich nicht wieder
schloss; ich kam mir vor wie eine Maschine. «
    Gute alte
Mom,
    kritzelte Garp.
    »In dem, was du schreibst, ist so viel Mitgefühl für die Menschen«,
erklärte Roberta ihm unvermittelt. »Aber in [528]  dir selbst, in deinem wirklichen
Leben, sehe ich nicht so viel Mitgefühl«, sagte sie. Es war dasselbe, was Jenny
ihm immer vorwarf.
    Aber jetzt, das fühlte er, hatte
er mehr. Mit seinem verklammerten Mund, mit seiner Frau, die ihren Arm den
ganzen Tag in einer Schlinge trug, und mit Duncan, bei dem nur noch das halbe
Gesicht unversehrt war, hatte Garp mehr Verständnis für die anderen Wracks, die
nach Dog’s Head Harbor gepilgert kamen.
    Es war ein Sommerort. Außerhalb
der Saison war das ausgeblichene, schindelgedeckte Haus mit seinen Veranden und
Mansarden der einzige bewohnte Besitz in den graugrünen Dünen und an dem weißen
Strand am Ende der Ocean Lane. Gelegentlich schnüffelte sich ein Hund durch das
knochenfarbene Treibholz, oder Rentner, die ein paar Kilometer landeinwärts in
ihren ehemaligen Sommerhäusern wohnten, spazierten an der Wasserlinie entlang
und begutachteten die Muscheln. Im Sommer liefen überall am Strand viele Hunde
und Kinder und Kindermädchen herum, und im Hafen lagen immer ein oder zwei
bunte Boote. Doch als die Garps zu Jenny zogen, wirkte die Küste verlassen. Der
Strand war zwar übersät mit den Dingen, die die Springfluten des Winters
angeschwemmt hatten, aber menschenleer. Der Atlantik hatte den ganzen April und
Mai hindurch die bläulich bleierne Farbe einer Prellung – die Farbe von Helens
Nasenrücken.
    Besucher, die außerhalb der
Saison in den Ort kamen, wurden schnell als verlorene Frauen auf der Suche nach
Jenny Fields, der berühmten Krankenschwester, identifiziert. Im Sommer
brauchten diese Frauen oft einen ganzen [529]  Tag lang, bis sie jemanden fanden,
der wusste, wo Jenny wohnte. Aber die ständigen Bewohner von Dog’s Head Harbor
wussten es alle: »Das letzte Haus am Ende der Ocean Lane«, erklärten sie den
beschädigten Mädchen und Frauen, die nach dem Weg fragten. »Es ist so groß wie
ein Hotel, Süße. Sie können es nicht verfehlen.«
    Manchmal trotteten diese
Suchenden zuerst den Strand hinunter und betrachteten das Haus lange, ehe sie
den Mut fassten, näher zu treten und nachzuschauen, ob Jenny zu Hause war;
manchmal sah Garp sie, wie sie einzeln oder zu zweit und zu dritt auf den
windigen Dünen hockten und das Haus beobachteten, als versuchten sie, den Grad
an Mitgefühl, der darin herrschte, abzulesen. Wenn es mehr als eine war,
beratschlagten sie sich am Strand; eine wurde dazu auserwählt, an die Tür zu
klopfen, während die anderen wie Hunde, denen man »Platz!« befohlen hatte, auf
den Dünen kauerten, bis sie gerufen wurden.
    Helen kaufte Duncan ein Teleskop,
und von seinem Zimmer mit dem Meerblick spähte Duncan die ängstlichen
Besucherinnen aus und verkündete ihre Anwesenheit oft Stunden vor dem Klopfen
an der Tür. »Da ist eine für Grandma«, sagte er etwa. Scharf einstellen, immer
scharf einstellen. »Sie ist ungefähr vierundzwanzig. Oder vielleicht vierzehn.
Sie hat einen blauen Rucksack. Sie hat eine Orange mit, aber ich glaube nicht,
dass sie sie essen will. Es ist noch eine andere bei ihr, aber ich kann ihr
Gesicht nicht sehen. Sie liegt; nein, ihr ist übel. Nein, sie trägt eine Art
Maske. Vielleicht ist sie die Mutter von der anderen – nein, ihre Schwester.
Oder nur eine Freundin.«
    »Jetzt isst sie die Orange. Es
sieht nicht sehr schön aus«, [530]  meldete Duncan dann. Und Roberta pflegte
ebenfalls hinzuschauen; Helen manchmal auch. Oft war Garp derjenige, der die
Tür öffnete.
    »Ja, sie ist meine Mutter«, sagte
er dann, »aber sie ist gerade einkaufen gegangen. Kommen Sie bitte herein, wenn
Sie so lange warten möchten.« Und er lächelte, auch wenn er die Person die
ganze Zeit so sorgfältig begutachtete, wie die Rentner am Strand ihre Muscheln
betrachteten. Und ehe sein Kiefer verheilt und seine zerbissene Zunge wieder
zusammengewachsen war, pflegte Garp die Tür mit einem Satz vorgefertigter
Mitteilungen zu öffnen. Viele Besucherinnen waren nicht im Geringsten
überrascht, Mitteilungen gereicht zu bekommen, weil dies auch die einzige Art
war, wie sie kommunizierten.
    Hallo,
mein Name ist Beth. Ich bin eine Ellen-Jamesianerin.
    Und Garp reichte ihr seine:
    Hallo,
mein Name ist Garp. Ich habe mir den Kiefer

Weitere Kostenlose Bücher