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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sagte Helen.
    Alle
wollen Schriftsteller werden!,
    schrieb Garp. Aber das
stimmte nicht. Er wollte nicht Schriftsteller werden – nicht mehr. Wenn er zu schreiben versuchte, richtete sich nur das tödlichste
Thema vor ihm auf, um ihn zu begrüßen. Er wusste, dass er es vergessen musste –
es nicht mit seiner Erinnerung hätscheln oder den Schrecken mit seiner Kunst
überhöhen durfte. Das war Wahnsinn, aber jedes Mal, wenn er ans Schreiben
dachte, begrüßte ihn sein einziges Thema mit seinen tückischen Blicken, seinen
nackten Innereien und seinem Todesgestank. Und deshalb schrieb er nicht; er
versuchte es nicht einmal.
    Endlich ging Randy. Duncan ließ
ihn zwar nur ungern ziehen, aber Garp war erleichtert; er zeigte niemandem die
Mitteilung, die Randy für ihn dagelassen hatte.
    [535]  Ich
werde nie so gut sein wie Sie – bei nichts. Aber selbst wenn das so ist,
brauchten Sie es einem nicht so unter die Nase zu reiben.
    Ich bin also nicht nett,
dachte Garp. Das ist nicht neu. Er warf Randys Mitteilung fort.
    Als die Klammern abgenommen
wurden und seine Zunge sich nicht mehr wund anfühlte, nahm Garp das Laufen
wieder auf. Als das Wetter wärmer wurde, nahm Helen das Schwimmen wieder auf.
Man sagte ihr, das sei gut zur Kräftigung ihrer Muskeln und zur Stärkung ihres
Schlüsselbeins, das ihr jedoch immer noch weh tat – besonders beim Brustschwimmen.
Sie schwamm kilometerweit, kam es Garp vor, ins Meer hinaus und dann parallel
zur Küste. Sie sagte, sie schwimme so weit hinaus, weil das Wasser dort ruhiger
sei; näher am Ufer störten sie die Wellen. Aber Garp sorgte sich. Er und Duncan
benutzten manchmal das Teleskop, um sie zu beobachten. Was soll ich tun, wenn
etwas passiert?, fragte sich Garp. Er war ein schlechter Schwimmer.
    »Mom ist eine gute Schwimmerin«,
versicherte ihm Duncan. Duncan entwickelte sich ebenfalls zu einem guten
Schwimmer.
    »Sie schwimmt zu weit hinaus«,
sagte Garp.
    Als die Sommergäste kamen,
trainierten die Garps etwas unauffälliger; sie spielten nur frühmorgens am
Strand oder im Meer. Tagsüber, wenn besonders viele Menschen am Strand waren,
und am frühen Abend betrachteten sie die Welt von den schattigen Veranden von
Jenny Fields’ Besitz aus; sie zogen sich in das große kühle Haus zurück.
    [536]  Garp ging es etwas besser. Er
begann zu schreiben – zuerst vorsichtig: lange Handlungsentwürfe und
Spekulationen über seine Gestalten. Die Hauptgestalten mied er; zumindest
glaubte er, dass sie die Hauptgestalten seien – ein Mann, eine Frau, ein Kind.
Er konzentrierte sich stattdessen auf einen Kriminalbeamten, der die Familie
nicht kannte. Garp wusste, welcher Schrecken im Herzen seines Buches lauern
würde, und näherte sich ihm vielleicht deshalb durch eine Gestalt, die von
seiner persönlichen Angst so weit entfernt war wie der Polizeiinspektor von dem
Verbrechen. Wie komme ich dazu, über einen
Polizeiinspektor zu schreiben?, fragte er sich und machte deshalb den Inspektor
zu jemandem, den sogar Garp verstehen konnte. Dann stand Garp selbst am Rand
des Grauens. Der Verband wurde von Duncans Augenloch abgenommen, und der Junge
trug eine schwarze Augenklappe, die sich auf der sommerlichen Bräune seines
Gesichts beinahe hübsch ausnahm. Garp holte tief Luft und begann einen Roman.
    Es war im Spätsommer von Garps
Genesung, als Bensenhaver und wie er die Welt sah begonnen wurde. Ungefähr um die gleiche Zeit wurde Michael Milton aus dem
Krankenhaus entlassen: Er ging gebückt und mit einem vergrämten Gesicht. Wegen
einer Infektion, Folge einer unsachgemäßen Katheterisierung – und verschlimmert
durch ein allgemeines urologisches Leiden –, hatte er sich den restlichen Teil
seines Penis operativ entfernen lassen müssen. Garp erfuhr es nie; und in
diesem Stadium hätte es ihn womöglich nicht einmal aufgeheitert.
    Helen wusste, dass Garp wieder
schrieb.
    »Ich will es nicht lesen«, teilte
sie ihm mit. »Kein Wort [537]  davon. Ich weiß, dass du es schreiben musst, aber
ich will es nie sehen. Ich möchte dir nicht weh tun, aber du musst mich
verstehen. Ich muss es vergessen; wenn du darüber schreiben musst, dann helfe dir Gott. Jeder
begräbt solche Dinge auf seine Weise.«
    »Im Grunde ist es nicht darüber «, erklärte er ihr. »Ich schreibe keinen
autobiographischen Roman.«
    »Auch das weiß ich«, sagte sie.
»Aber ich will es trotzdem nicht lesen.«
    »Natürlich, ich verstehe«, sagte
er.
    Schreiben, das hatte er immer
gewusst, war ein einsames

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