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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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eine
Möglichkeit, die unerwünschte familiäre Enge ihres Hauses und der Einfahrt
aufzugeben.
    [522]  Im Moralkodex der Universität
ist »sittenloses Verhalten« zwar einer der Gründe für die Auflösung eines
festen Lehrauftrags – aber so etwas wurde nie auch nur erwogen; Beischlaf mit
Studenten wurde im Allgemeinen nicht sehr streng geahndet. Es war vielleicht
hin und wieder ein ungenannter Grund dafür, dass ein Dozent keinen festen
Lehrauftrag erhielt, doch kaum ein Grund dafür, dass der feste Lehrauftrag
eines Dozenten widerrufen wurde. Helen mag geglaubt haben, dass es auf der
Skala des vorstellbaren Missbrauchs von Studenten schon ziemlich weit oben rangierte,
wenn man drei Viertel des Penis eines Studenten abbiss. Beischlaf mit ihnen –
das passierte einfach, auch wenn es nicht gefördert wurde; es gab viel
schlimmere Arten, Studenten zu prüfen und für ihr Leben »aufzugliedern«. Aber
die Amputation ihrer Genitalien war zweifellos eine schwerwiegende Sache,
selbst wenn es schlechte Studenten waren, und Helen musste das Bedürfnis
empfunden haben, sich selbst zu bestrafen. Deshalb beraubte sie sich des
Vergnügens, die Arbeit fortzusetzen, auf die sie sich so gut vorbereitet hatte,
und sie verzichtete auf die Anregung, die Bücher und das Reden darüber ihr
immer bedeutet hatten. In ihrem späteren Leben sollte Helen sich erheblichen
Kummer ersparen, indem sie sich weigerte, sich schuldig zu fühlen; in ihrem späteren
Leben sollte die ganze Geschichte mit Michael Milton sie sehr viel häufiger
wütend als traurig machen – weil sie stark genug war, um zu glauben, dass sie
eine gute Frau war, die für eine lächerliche Unbesonnenheit unverhältnismäßig
büßen musste.
    Aber wenigstens eine Zeitlang
sollte Helen sich und ihre Familie kurieren. Da sie nie eine Mutter gehabt und
kaum [523]  je die Möglichkeit gehabt hatte, Jenny Fields auf diese Weise in
Anspruch zu nehmen, fügte sie sich der Krankenhausperiode in Dog’s Head Harbor.
Sie beruhigte sich, indem sie Duncan umsorgte, und sie hoffte, dass Jenny Garp
umsorgen konnte.
    Die Krankenhausatmosphäre war
nichts Neues für Garp, der seine frühesten Erfahrungen – mit Angst, mit
Träumen, mit Sex – allesamt in der Umgebung der Krankenstation der Steering
School gemacht hatte. Er passte sich an. Es half ihm, dass er aufschreiben
musste, was er sagen wollte, weil es ihn vorsichtig werden ließ; es veranlasste
ihn, viele der Dinge, von denen er dachte, er wollte sie sagen, noch einmal zu
überdenken. Wenn er sie geschrieben sah – diese unfertigen Gedanken –, wurde er
sich bewusst, dass er sie nicht sagen konnte oder sollte; wenn er daranging,
sie zu überarbeiten, besann er sich eines Besseren und warf sie fort. Einer war
für Helen bestimmt und lautete:
    Drei
Viertel ist nicht genug.
    Er warf ihn fort.
    Dann schrieb er einen für Helen,
den er ihr auch gab:
    Ich gebe
Dir keine Schuld.
    Später schrieb er noch einen.
    Ich gebe mir auch keine Schuld,
    lautete diese Mitteilung.
    [524]  Nur so
können wir wieder »ganz« sein,
    schrieb Garp an seine Mutter.
    Und Jenny Fields wanderte weiß
durch das salzig-feuchte Haus, von einem Zimmer ins andere, mit ihren
Handreichungen und mit Garps Mitteilungen. Sie waren alles, was er schreiben
konnte.
    Natürlich war das Haus in Dog’s
Head Harbor an Genesende gewöhnt. Jennys verletzte Frauen hatten dort wieder zu
sich gefunden; die nach Meer riechenden Zimmer hatten traurige Geschichten
überdauert. Unter anderem die Traurigkeit Roberta Muldoons, die dort mit Jenny
die schwierigsten Phasen ihrer Geschlechtsumwandlung durchgemacht hatte.
Roberta hatte es nicht geschafft, allein zu leben – und auch nicht, mit einer
Reihe von Männern zu leben –, und sie lebte wieder bei Jenny in Dog’s Head
Harbor, als die Garps einzogen.
    Als es Frühling und wärmer wurde
und das Loch, das Duncans rechtes Auge gewesen war, langsam verheilte und nicht
mehr so empfindlich auf Sandkörner reagierte, nahm Roberta Duncan mit zum
Strand hinunter. Am Strand entdeckte Duncan, wie sein Tiefenschärfeproblem sich
in Verbindung mit einem geworfenen Ball verhielt, denn Roberta Muldoon
versuchte, mit Duncan Fangen zu spielen, und traf ihn sehr bald mit dem Fußball
im Gesicht. Sie gaben den Ball auf, und Roberta beschäftigte Duncan damit, dass
sie im Sand graphische Darstellungen sämtlicher Spiele entwarf, die sie bei den
Philadelphia Eagles als Linksaußen mitgemacht hatte; sie konzentrierte sich auf
den Teil des

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