Garp und wie er die Welt sah
Mädchen wird«, sagte
Helen, »werden wir es Jenny nennen, nach deiner Mutter.«
»Schön«, sagte Garp.
»Wenn es ein Junge wird, weiß ich
nicht«, sagte Helen.
»Nicht Walt«, sagte Garp.
»Okay«, sagte Helen.
» Auf keinen
Fall wieder Walt«, sagte Garp. »Obwohl ich weiß, dass manche Leute das
tun.«
»Ich würde es nicht wollen«,
sagte Helen.
[547] »Irgendeinen anderen Namen,
wenn es ein Junge wird«, sagte Garp.
»Ich hoffe, es wird ein Mädchen«,
sagte Helen.
»Mir ist es gleich«, sagte Garp.
»Natürlich. Mir im Grunde auch«,
sagte Helen.
»Es tut mir sehr leid«, sagte
Garp; er umarmte sie.
»Nein, es tut mir sehr leid«, sagte sie.
»Nein, es tut mir sehr leid«, sagte Garp.
»Mir«, sagte Helen.
»Mir«, sagte Garp.
Sie liebten sich sehr behutsam.
Helen stellte sich vor, sie wäre Roberta Muldoon kurz nach der Operation und
probierte eine ganz neue Vagina aus. Garp versuchte, sich nichts vorzustellen.
Sobald Garp sich etwas
vorzustellen begann, sah er nur den blutigen Volvo. Da waren Duncans Schreie,
und draußen konnte er Helen schreien hören; und noch jemanden. Er zwängte sich
hinter dem Steuer hervor und kniete auf dem Fahrersitz; er hielt Duncans
Gesicht in den Händen, aber das Blut wollte nicht aufhören, und Garp konnte
nicht alles sehen, was nicht in Ordnung war.
»Es ist okay«, flüsterte er
Duncan zu. »Psst, bald ist alles wieder gut.« Aber wegen seiner Zunge kamen
keine Worte – nur ein leichtes Sprühen.
Duncan schrie weiter, und Helen
auch, und jemand anders stöhnte weiter – so wie ein Hund, der im Schlaf träumt.
Aber was hörte Garp, das ihn so ängstigte? Was sonst noch?
»Es ist alles in Ordnung, Duncan,
glaub mir«, nuschelte er. »Bald ist alles wieder gut.« Er wischte mit der Hand
das Blut von der Kehle des Jungen; an der Kehle des Jungen [548] konnte er keinen
Schnitt entdecken. Er wischte das Blut von den Schläfen des Jungen und sah,
dass sie nicht eingeschlagen waren. Er trat die Tür auf der Fahrerseite auf, um
sich zu vergewissern; die automatische Beleuchtung ging an, und er konnte
sehen, dass eins von Duncans Augen blickte. Das Auge suchte Hilfe, aber Garp
konnte sehen, dass das Auge sehen konnte. Er wischte mit der Hand mehr Blut
fort, aber er konnte Duncans anderes Auge nicht finden. »Es ist okay«,
flüsterte er Duncan zu, aber Duncan schrie noch lauter.
Über die Schulter seines Vaters
hinweg hatte Duncan seine Mutter an der offenen Tür des Volvos gesehen. Blut
strömte aus ihrer aufgeplatzten Nase und ihrer aufgerissenen Zunge, und sie
hielt den rechten Arm, als wäre er irgendwo bei der Schulter abgebrochen. Aber
es war die Angst in ihrem Gesicht, die Duncan
ängstigte. Garp drehte sich um und erblickte sie. Etwas anderes ängstigte ihn.
Es war nicht Helens Schreien, es
war nicht Duncans Schreien. Und Garp wusste, dass Michael Milton, der grunzte,
sich zu Tode grunzen konnte – es war ihm egal. Es war etwas anderes. Ein Geräusch
war es nicht. Es war kein Geräusch. Es war das Fehlen
eines Geräuschs.
»Wo ist Walt?«, sagte Helen und
versuchte, in den Volvo zu blicken. Sie hörte auf zu schreien.
»Walt!«, rief Garp. Er hielt den
Atem an. Duncan hörte auf zu weinen.
Sie hörten nichts. Und Garp
wusste, dass Walt eine Erkältung hatte, die man ein Zimmer weiter hören konnte – selbst zwei Zimmer weiter konnte man das feuchte Rasseln in der Brust des
Jungen hören.
[549] »Walt!«, schrien sie.
Beide, Helen und Garp, sollten
sich später zuflüstern, dass sie sich in jenem Augenblick Walt mit den Ohren
unter Wasser vorstellten, wie er andächtig dem Spiel seiner Finger in der
Badewanne lauschte.
»Ich sehe ihn immer noch«,
flüsterte Helen später.
»Die ganze Zeit«, sagte Garp.
»Ich weiß.«
»Ich brauche bloß die Augen zu
schließen«, sagte Helen.
»Richtig«, sagte Garp. »Ich
weiß.«
Aber Duncan sagte es am besten.
Duncan sagte, manchmal sei es so, als wäre sein fehlendes rechtes Auge nicht
ganz fort.
»Es ist, als ob ich noch damit
sehen kann, manchmal«, sagte Duncan. »Aber es ist wie eine Erinnerung, es ist
nicht wirklich – was ich sehe.«
»Vielleicht ist es das Auge
geworden, mit dem du deine Träume siehst«, sagte Garp zu ihm.
»So ungefähr«, sagte Duncan.
»Aber es ist so wirklich.«
»Es ist dein imaginäres Auge«, sagte Garp. »Das kann sehr wirklich sein.«
»Es ist das Auge, mit dem ich
Walt noch sehen kann«, sagte Duncan. »Verstehst du?«
»Ich weiß«, sagte Garp.
Viele
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