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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Ringerkinder haben robuste
Nacken, aber nicht alle Kinder von Ringern haben Nacken, die robust genug sind.
    Für Duncan und Helen schien Garp
jetzt ein unerschöpfliches Reservoir an Güte zu haben; ein Jahr lang sprach er
leise mit ihnen; ein Jahr lang war er nie ungeduldig mit ihnen. Sie wurden sicher ungeduldig wegen so viel [550]  Feingefühls.
Jenny Fields stellte fest, dass die drei ein Jahr lang brauchten, um einander
zu kurieren.
    Was taten sie, fragte sich Jenny,
in jenem Jahr bloß mit den anderen Gefühlen, die
menschliche Wesen haben? Helen verbarg sie; Helen war sehr stark. Duncan sah
sie nur mit seinem fehlenden Auge. Und Garp? Er war stark, aber nicht so stark.
Er schrieb einen Roman mit dem Titel Bensenhaver und wie er
die Welt sah, in den alle seine anderen Gefühle flohen.
    Als Garps Verleger, John Wolf,
das erste Kapitel von Bensenhaver und wie er die Welt sah gelesen hatte, schrieb er an Jenny Fields. »Was zum Teufel geht da draußen
vor?«, schrieb Wolf Jenny. »Es ist, als hätte Garps Kummer sein Herz pervers
gemacht.«
    Aber T.S. Garp fühlte sich
geleitet von einem Impuls, so alt wie Mark Aurel, der die Weisheit und
Eindringlichkeit besessen hatte zu bemerken: »Im Leben eines Menschen ist seine
Zeit nur ein Augenblick… seine Wahrnehmung ein schwaches Binsenlicht.«

[551]  15
    Bensenhaver und wie er die Welt
sah
    Hope Standish war mit
ihrem Sohn Nicky zu Hause, als Oren Rath in die Küche kam. Sie trocknete gerade
das Geschirr ab, und sie sah das lange, schmale Fischermesser mit der glatten
Schneide und der Spezialsägekante, das auch Schuppenmesser genannt wird,
sofort. Nicky war noch nicht ganz drei; er saß zum Essen immer noch auf einem
hohen Kinderstuhl, und er aß gerade sein Frühstück, als Oren Rath hinter ihn
trat und ihm die Sägezähne des Fischermessers an die Kehle setzte.
    »Stellen Sie die Teller hin«,
befahl er Hope. Mrs. Standish tat, wie ihr befohlen wurde. Nicky gluckste den
Fremden an; das Messer war nur ein Kitzeln unter seinem Kinn.
    »Was wollen Sie?«, fragte Hope.
»Ich gebe Ihnen alles, was Sie haben wollen.«
    »Es wird Ihnen auch nichts
anderes übrigbleiben«, sagte Oren Rath. »Wie heißen Sie?«
    »Hope.«
    »Ich heiße Oren.«
    »Das ist ein hübscher Name«,
sagte Hope zu ihm.
    Nicky konnte sich auf dem hohen
Kinderstuhl nicht umdrehen, um den Fremden anzusehen, der ihn an der Kehle
kitzelte. Er hatte aufgeweichte Cornflakes an den Fingern, und als er nach Oren
Raths Hand griff, trat Rath [552]  neben den Kinderstuhl und legte die glatte Kante
des Messers an die fleischige Rundung der Wange des Jungen. Dort machte er
einen blitzschnellen Schnitt, als wollte er den Wangenknochen des Kindes
markieren. Dann trat er zurück, um Nickys kurzen Schrei zu hören, sein
überraschtes Gesicht zu beobachten; eine fadendünne Blutlinie, wie eine Naht,
erschien auf der Wange des Jungen. Es war, als hätte das Kind plötzlich eine
Kieme entwickelt.
    »Ich meine es ernst«, sagte Oren
Rath. Hope ging auf Nicky zu, aber Rath winkte sie zurück. »Er braucht Sie
nicht. Er macht sich nur nichts aus seinen Cornflakes. Er möchte einen Keks
haben.« Nicky brüllte.
    »Er wird daran ersticken, wenn er
weint«, sagte Hope.
    »Wollen Sie sich mit mir anlegen?«,
fragte Oren Rath. »Wollen Sie von Ersticken reden? Ich schneide ihm den Schwanz
ab und stopfe ihn ihm in die Kehle – wenn Sie von Ersticken reden wollen.«
    Hope gab Nicky einen Zwieback,
und er hörte auf zu weinen.
    »Sehen Sie?«, sagte Oren Rath. Er
nahm den Kinderstuhl mit Nicky hoch und drückte ihn an seine Brust. »Wir gehen
jetzt ins Schlafzimmer«, sagte er; er nickte Hope zu. »Sie gehen vor.«
    Sie gingen zusammen durch den
Flur. Die Familie Standish wohnte damals in einem Ranchhaus. Als ein weiteres
Kind geboren wurde, waren sie zu dem Schluss gekommen, Ranchhäuser seien
sicherer, falls es einmal brennen sollte. Hope ging ins Schlafzimmer, und Oren
Rath stellte den Kinderstuhl mit Nicky vor der Schlafzimmertür ab. Nicky hatte
fast aufgehört zu bluten; es war nur noch ein bisschen [553]  Blut auf seiner
Wange; Oren Rath wischte es mit der Hand ab, dann wischte er seine Hand an
seiner Hose ab. Dann folgte er Hope ins Schlafzimmer. Als er die Tür zumachte,
fing Nicky an zu weinen.
    »Bitte«, sagte Hope. »Er könnte
wirklich ersticken, und er kann aus dem Kinderstuhl klettern – oder der Stuhl
könnte umfallen. Er ist nicht gern allein.«
    Oren Rath ging zum Nachttisch und
durchtrennte die

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