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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Damenoverall.
    Garp fand das alles mit einem Mal
so merkwürdig ungerecht. Er hatte nicht darum gebeten, eine solche Anatomie zu
bekommen. Er wünschte, er hätte einen angenehmen Flug haben und sich mit dieser
klugen und sympathisch wirkenden Frau, Sally Devlin, der gescheiterten
Kandidatin für das Gouverneursamt von New Hampshire, unterhalten können. Er
hätte ihr gesagt, dass sie zu gut für den korrupten Job sei.
    »Einen tollen Overall haben Sie da an«, sagte Garps lüsterner Sitznachbar.
    »Stecken Sie sich ihn sonst
wohin«, sagte Garp. Er war immerhin der Sohn einer Frau, die in einem Bostoner
Kino einen Schürzenjäger aufgeschlitzt hatte – vor Jahren, vor langer Zeit.
    Der Mann bemühte sich
aufzustehen, aber er schaffte es nicht; sein Sicherheitsgurt wollte ihn nicht
freigeben. Er sah Garp hilflos an. Garp beugte sich über den gefangenen Schoß
des Mannes; Garp würgte an der Wolke seines Parfüms, mit dem Roberta ihn, wie
ihm wieder einfiel, besprüht hatte. Es gelang ihm, den Auslösemechanismus des
Sicherheitsgurts richtig zu betätigen, und der Mann wurde mit einem lauten
Klicken befreit. Dann knurrte Garp dem Mann leise etwas Drohendes ins hochrote
Ohr. »Wenn wir erst mal oben sind, Süßer«, flüsterte er dem verängstigten
Burschen zu, »können Sie sich auf dem Klo selbst einen blasen.«
    [699]  Aber als der Mann auf Garps
Gesellschaft verzichtet hatte, war der Sitz am Gang frei und lud jemand anderen
ein. Garp starrte herausfordernd auf den leeren Sitz, um den nächsten Mann
abzuschrecken, der ihn einnehmen wollte. Die Person, die sich Garp näherte,
erschütterte sein vorübergehend erstarktes Selbstvertrauen. Sie war sehr dünn
und umklammerte mit knochigen mädchenhaften Händen eine überdimensionale
Handtasche. Sie fragte nicht; sie setzte sich einfach hin. Der Sog ist heute
ein blutjunges Mädchen, dachte Garp. Als sie in ihre Handtasche griff, packte
Garp sie am Handgelenk und zog die Hand aus der Tasche auf ihren Schoß. Sie war
nicht kräftig, und in ihrer Hand war keine Pistole; nicht einmal ein Messer.
Garp sah nur einen Notizblock und einen Bleistift, dessen Radiergummi bis auf
einen winzigen Stummel abgekaut war.
    »Es tut mir leid«, flüsterte er.
Wenn sie keine Attentäterin war, glaubte er zu wissen, wer oder was sie war.
»Warum ist mein Leben so voll von Sprachbehinderten?«, schrieb er einmal. »Oder
fallen mir all die kaputten Stimmen ringsum nur deshalb auf, weil ich
Schriftsteller bin?«
    Die nicht-gewalttätige
Erscheinung neben ihm im Flugzeug schrieb hastig und reichte ihm einen Zettel.
    »Ja, ja«, sagte er müde. »Sie
sind eine Ellen-Jamesianerin.« Aber das Mädchen biss sich auf die Lippe und
schüttelte heftig den Kopf. Sie schob ihm den Zettel in die Hand.
    Ich bin
Ellen James,
    stand auf dem Zettel.
    [700]  Ich
bin keine Ellen-Jamesianerin .
    »Sie sind die Ellen James?«, fragte er sie, obgleich es überflüssig war und er es
wusste – er hätte es schon von ihrem Anblick her wissen müssen. Sie hatte das
richtige Alter, konnte vor gar nicht allzu langer Zeit jenes elfjährige Kind
gewesen sein, dem man Gewalt angetan und die Zunge abgeschnitten hatte. Die
schmuddeligen Untertassenaugen waren aus der Nähe gar nicht schmuddelig,
sondern einfach blutunterlaufen, vielleicht vor Schlaflosigkeit. Ihre
Unterlippe war zerbissen; sie sah aus wie der Bleistiftradiergummi – abgekaut.
    Ich bin
aus Illinois. Meine Eltern kamen kürzlich bei einem Autounfall ums Leben. Ich
bin in den Osten gekommen, um Ihre Mutter kennenzulernen. Ich hab ihr einen
Brief geschrieben, den sie tatsächlich beantwortet hat!
Sie hat mir einen wunderschönen Brief geschrieben und mich zu sich eingeladen.
Außerdem hat sie mir geschrieben, ich solle alle Ihre Bücher lesen.
    Garp blätterte die winzigen
Notizblockseiten um und nickte und lächelte in einem fort.
    Aber Ihre
Mutter wurde umgebracht!
    Ellen James zog ein braunes
Stofftuch aus der großen Handtasche, in das sie sich schneuzte.
    [701]  Ich
wollte zu einer Frauengruppe nach New York ziehen. Aber ich kannte schon zu
viele Ellen-Jamesianerinnen, nur keine anderen Leute. Ich bekomme Hunderte von
Weihnachtskarten,
    schrieb sie. Sie hielt inne,
damit Garp diesen Zettel lesen konnte.
    »Ja, ja, das glaube ich Ihnen«,
ermutigte er sie.
    Ich ging
natürlich zu der Beerdigung. Ich ging hin, weil ich wusste, dass Sie da sein
würden. Ich wusste, dass Sie kommen würden,
    schrieb sie; jetzt machte sie
eine Pause, um ihn anzulächeln.

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