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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Dann versteckte sie das Gesicht in ihrem
schmuddeligen braunen Taschentuch.
    »Sie wollten mich sehen?«, sagte Garp.
    Sie nickte heftig. Aus der großen
Tasche zog sie ein zerlesenes Exemplar von Bensenhaver und
wie er die Welt sah .
    Die beste
Vergewaltigungsgeschichte, die ich je gelesen habe,
    schrieb Ellen James. Garp
zuckte zusammen.
    Wissen
Sie, wie oft ich dieses Buch gelesen habe?,
    schrieb sie. Er sah in ihre
tränenfeuchten bewundernden Augen. Stumm wie eine Ellen-Jamesianerin schüttelte
er den Kopf. Sie berührte sein Gesicht; ihre Hände waren von [702]  einer
kindlichen Tollpatschigkeit. Sie hielt ihre Finger zum Abzählen hoch: Alle
Finger einer kleinen Hand und die meisten der anderen. Sie hatte sein
schauderhaftes Buch acht Mal gelesen.
    »Acht Mal«, murmelte Garp.
    Nickend lächelte sie ihn an. Dann
lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück, als wäre ihr Leben vollendet, jetzt, da
sie neben ihm saß, auf dem Flug nach Boston – wenn schon nicht mit der Frau,
die sie den ganzen Weg von Illinois her bewundert hatte, dann wenigstens mit
deren einzigem Sohn, der es in ihren Augen auch tat.
    »Waren Sie auf dem College?«,
fragte Garp sie.
    Ellen James hielt einen
schmuddeligen Finger hoch; sie machte ein bekümmertes Gesicht.
    »Ein Jahr?«, dolmetschte Garp.
»Aber es hat Ihnen nicht gefallen. Es hat nicht geklappt?«
    Sie nickte eifrig.
    »Und was wollen Sie werden?«,
fragte er und hielt sich mit Mühe von dem Zusatz ab: Wenn
Sie erwachsen sind.
    Sie zeigte auf ihn und errötete,
berührte dabei sogar seinen üppigen Busen.
    »Schriftstellerin?«, riet Garp.
Gelöst sah sie ihn an und lächelte; er verstand sie so mühelos, schien ihr
Gesicht zu sagen. Garp fühlte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Sie kam ihm
plötzlich wie eines jener gezeichneten Kinder vor, von denen er gelesen hatte:
die keine Antikörper haben, keine natürliche Immunität gegen Krankheiten
entwickeln. Wenn sie ihr Leben nicht in großen Plastikhüllen verbringen,
sterben sie an der ersten kleinen Erkältung. Hier war Ellen James aus Illinois,
aus ihrer Hülle geschlüpft.
    [703]  »Ihre Eltern sind beide ums Leben gekommen?«, fragte Garp. Sie nickte und
biss sich wieder auf die angeknabberte Lippe. »Und Sie haben sonst keine
Familie mehr?«, fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf.
    Er wusste, was seine Mutter getan
hätte. Er wusste, Helen würde nichts dagegen haben, und Roberta würde natürlich
jederzeit helfen. Und all die Frauen, die verletzt wurden und jetzt genesen
waren, auf ihre Weise auch.
    »Also, von jetzt an haben Sie wieder eine Familie«, sagte Garp zu Ellen James; er
hielt ihre Hand und zuckte zusammen, als er sich dieses Angebot machen hörte.
Er hörte das Echo der Stimme seiner Mutter, ihre alte Seifenopernrolle: die
Abenteuer der guten Krankenschwester.
    Ellen James schloss die Augen,
als wäre sie vor Freude ohnmächtig geworden. Als die Stewardess sie bat, sich
anzuschnallen, hörte Ellen James sie nicht; Garp schnallte sie an. Den ganzen
kurzen Flug nach Boston schrieb sich das Mädchen alles von der Seele.
    Ich hasse die Ellen-Jamesianerinnen,
    schrieb sie.
    Ich würde
mir das nie freiwillig antun.
    Sie öffnete den Mund und
zeigte auf die gähnende Leere darin. Garp wand sich.
    Ich möchte sprechen; ich möchte alles sagen,
    [704]  schrieb Ellen James. Garp
bemerkte, dass der knotige Daumen und Zeigefinger ihrer Schreibhand gut doppelt
so groß waren wie die unbenutzten Finger ihrer anderen Hand; sie hatte einen
Schreibmuskel, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Kein Schreibkrampf bei Ellen
James, dachte er.
    Die Worte
kommen und kommen,
    schrieb sie. Sie wartete auf
seine Zustimmung, Zeile für Zeile. Er nickte dann; und sie schrieb weiter. Sie
schrieb ihm ihr ganzes Leben auf. Ihr Englischlehrer von der Highschool, der
Einzige, der zählte. Das Ekzem ihrer Mutter. Der Ford Mustang, den ihr Vater zu
schnell fuhr.
    Ich habe
alles gelesen,
    schrieb sie. Garp erzählte
ihr, dass Helen auch eine große Leserin sei; er glaubte, Helen würde ihr
gefallen. Das Mädchen machte ein hoffnungsvolles Gesicht.
    Wer war
Ihr Lieblingsschriftsteller, als Sie ein Junge waren?
    »Joseph Conrad«, sagte Garp.
Sie seufzte ihre Zustimmung.
    Meine war
Jane Austen.
    »Prima«, sagte Garp zu ihr.
    Auf dem Logan-Airport schlief sie
beinahe im Stehen; Garp steuerte sie durch die Gänge und lehnte sie an den [705]  Schalter,
während er die nötigen Formulare für den Mietwagen ausfüllte.
    »T.S.?«, fragte

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