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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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angezogenen Knien auf der Seite. Sie versuchten immer
wieder, ihm die Perücke aus den Händen zu reißen. Und die winzige Handtasche.
Er umklammerte beides wie bei einem Raubüberfall. Er spürte einige Tritte,
einige Schläge und dann den Pfefferminzduft einer älteren Frau, die ihm ins
Gesicht atmete.
    »Versuchen Sie aufzustehen«,
sagte sie freundlich. Er sah, dass es eine Krankenschwester war. Eine richtige
Schwester. Sie hatte kein modisches Herz auf der Brust, nur das kleine
Namensschild aus Messing mit blauen Buchstaben – sie war Schwester Sowieso,
staatl. gepr.
    »Ich heiße Dotty«, sagte die
Schwester zu ihm; sie musste mindestens sechzig sein.
    »Hallo«, sagte Garp. »Vielen
Dank, Dotty.«
    Sie nahm seinen Arm und führte
ihn mit schnellen Schritten durch die restliche Menge. Jetzt, wo er bei ihr
war, schien ihm niemand mehr etwas anhaben zu wollen. Man ließ ihn gehen.
    [693]  »Haben Sie genug Geld für ein
Taxi?«, fragte ihn die Krankenschwester, die Dotty hieß, als sie vor dem
Auditorium der Schwesternschule waren.
    »Ich glaub schon«, sagte Garp. Er
schaute in seine scheußliche Handtasche; seine Brieftasche war noch darin. Und
die – jetzt noch wuscheligere – Perücke war unter seinen Arm geklemmt. Roberta
hatte Garps richtige Sachen, und Garp hielt vergebens nach einem Anzeichen
dafür Ausschau, dass Roberta die erste feministische Beerdigung heil
überstanden hatte.
    »Setzen Sie die Perücke auf«,
riet Dotty ihm, »sonst hält man Sie noch für einen von diesen Transvestiten.«
Er mühte sich ab, sie aufzusetzen; sie half ihm. »Die Leute sind so gemein zu
Transvestiten«, fügte Dotty hinzu. Sie zog ein paar Klemmen aus ihren grauen
Haaren und steckte Garps Perücke fest, damit sie richtig saß.
    Die Schramme auf seiner Wange,
erklärte sie ihm, würde bald aufhören zu bluten.
    Auf den Eingangsstufen des
Auditoriums der Schwesternschule drohte eine große schwarze Frau, die wie ein
ebenbürtiger Partner für Roberta aussah, Garp mit der Faust, sagte aber kein
Wort. Vielleicht war sie auch eine Ellen-Jamesianerin. Einige andere Frauen
sammelten sich um sie, und Garp fürchtete, sie überlegten womöglich, ob ein
offener Angriff ratsam sei. Am Rand dieser Gruppe, doch abseits von ihr, stand
ein Mädchen oder fast erwachsenes Kind, das einer Erscheinung glich; es war ein
schmuddeliges blondes Mädchen mit bohrenden Augen von der Farbe einer
kaffeebesudelten Untertasse – wie die Augen eines Süchtigen oder eines
Menschen, der sehr lange sehr [694]  viel geweint hat. Garp erstarrte unter ihrem
Blick und hatte Angst vor ihr – als wäre sie wirklich verrückt, so etwas wie ein minderjähriger Auftragskiller der Frauenbewegung,
mit einer Pistole in der überdimensionalen Handtasche. Er umklammerte seine
eigene schäbige Handtasche und tröstete sich damit, dass seine Brieftasche
zumindest voller Kreditkarten war; er hatte genügend Bargeld für ein Taxi zum
Flughafen, und mit den Kreditkarten konnte er nach Boston fliegen und, wie man
so sagt, in den Schoß seiner Restfamilie flüchten. Er wünschte, er könnte sich
seiner ostentativen Brüste entledigen, aber sie hafteten an ihm, als wäre er
mit ihnen zur Welt gekommen – und ebenso in diesem abwechselnd zu engen und an
ihm schlackernden Overall. Es war alles, was er hatte, und es musste reichen.
Dem Getöse, das aus dem Auditorium der Schwesternschule drang, entnahm Garp,
dass Roberta in leidenschaftliche Diskussionen – wenn nicht Tätlichkeiten –
verstrickt war. Jemand, der in Ohnmacht gefallen oder verprügelt worden war,
wurde herausgetragen; weitere Polizisten gingen hinein.
    »Ihre Mutter war eine
erstklassige Krankenschwester und eine Frau, die allen anderen Frauen Stolz
einflößte«, erklärte ihm die Schwester, die Dotty hieß. »Ich möchte wetten,
dass sie auch eine gute Mutter war.«
    »Na und ob«, sagte Garp.
    Die Schwester besorgte ihm ein
Taxi; als Letztes sah er von ihr, wie sie vom Bordstein zurücktrat und wieder
zum Auditorium der Schwesternschule ging. Die anderen Frauen, die auf den
Eingangsstufen zum Gebäude so bedrohlich gewirkt hatten, schienen kein
Interesse daran zu [695]  haben, ihr zu nahe zu treten. Weitere Polizisten trafen
ein; Garp schaute nach dem merkwürdigen Mädchen mit den Untertassenaugen, aber
sie war nicht bei den anderen Frauen.
    Er fragte den Taxifahrer, wer der
neue Gouverneur von New Hampshire sei. Garp versuchte, die Tiefe seiner Stimme
zu kaschieren, aber der Taxifahrer schien

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