Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
tragen.
    Er lief mit seinem 70-Kilo-Mann
anderthalb Kilometer auf der Hallenbahn, ehe er den Ringerraum aufschloss. [788]  Auf
dem letzten Stück forderte Garp den Jungen zu einem Spurt heraus, aber der
70-Kilo-Mann hatte größere Reserven als Garp und schlug ihn am Ende um einige
Meter. Dann »spielte« Garp im Ringerraum mit dem 70-Kilo-Mann – anstelle des
Aufwärmens. Er legte den Jungen mit Leichtigkeit auf die Matte, ungefähr fünf-
oder sechsmal, und trieb ihn dann ungefähr fünf Minuten – oder bis der Junge
Zeichen von Erschöpfung zeigte – über die Matte. Dann erlaubte Garp dem Jungen,
ihn umzuhebeln; Garp ließ sich von dem 70-Kilo-Mann auf die Schultern legen und
verteidigte sich als Untermann. Aber in Garps Rücken war ein Muskel, der
verkrampft war, der sich nicht so dehnen wollte, wie er es gern gehabt hätte,
und deshalb bat er den 70-Kilo-Mann, mit einem anderen Jungen weiterzumachen.
Garp setzte sich an die gepolsterte Wand und schaute glücklich schwitzend zu,
wie sich der Raum mit seiner Mannschaft füllte.
    Er ließ sie sich auf ihre Weise
aufwärmen – er hasste Freiübungen auf Kommando –, ehe er ihnen die ersten
Griffe demonstrierte, die sie trainieren sollten. »Sucht euch einen Partner,
sucht euch einen Partner«, sagte er mechanisch. Und er fügte hinzu: »Eric?
Holen Sie sich einen schweren Partner, oder Sie
müssen mit mir arbeiten.«
    Eric, sein 60-Kilo-Mann, hatte
sich angewöhnt, mit dem zweiten 52-Kilo-Mann, der Erics Zimmerkamerad und
bester Freund war, durchs Training zu lavieren.
    Als Helen in den Ringerraum kam,
war die Temperatur auf rund dreißig Grad gestiegen und kletterte weiter. Die
Jungenpaare auf den Matten keuchten bereits. Garp sah aufmerksam auf die
Stoppuhr. »Noch eine Minute!«, [789]  brüllte er. Als Helen an ihm vorbeiging,
hatte er eine Pfeife im Mund – deshalb küsste sie ihn nicht.
    Sie sollte sich an die Pfeife und
den unterbliebenen Kuss erinnern, solange sie lebte – eine sehr lange Zeit.
    Helen ging in ihre gewohnte Ecke
des Ringerraums, wo man nicht so leicht auf sie fallen konnte. Sie schlug ihr
Buch auf. Ihre Brillengläser beschlugen; sie wischte sie ab. Sie hatte die
Brille auf, als die Krankenschwester den Ringerraum betrat, ganz am anderen
Ende. Aber Helen blickte nie von ihrem Buch auf, außer wenn einer der Jungen
laut auf die Matte klatschte oder einen ungewöhnlich lauten Schmerzensschrei
ausstieß. Die Krankenschwester schloss die Tür des Ringerraums hinter sich und
ging schnell an den ringenden Körpern vorbei auf Garp zu, der seine Stoppuhr in
der Hand und seine Pfeife im Mund hatte. Garp nahm die Pfeife aus dem Mund und
brüllte: »Fünfzehn Sekunden!« Das war zugleich die Zeit, die ihm noch blieb. Garp steckte die Pfeife wieder in den Mund und holte
Luft.
    Als er die Krankenschwester sah,
hielt er sie irrtümlich für die freundliche Krankenschwester, die Dotty hieß
und ihm bei der Flucht von der ersten feministischen Beerdigung geholfen hatte.
Garp beurteilte sie einfach nach ihren Haaren, die stahlgrau und auf dem Kopf
zu einer Gretchenfrisur geflochten waren – natürlich eine Perücke. Die
Krankenschwester lächelte ihm zu. Wahrscheinlich fühlte sich Garp mit niemandem
so sicher wie mit einer Krankenschwester; er erwiderte ihr Lächeln und warf
einen Blick auf die Stoppuhr: zehn Sekunden.
    Als Garp wieder zu der
Krankenschwester aufblickte, [790]  sah er die Pistole. Er hatte gerade an seine
Mutter Jenny Fields gedacht und wie sie ausgesehen haben mochte, als sie, vor
nicht ganz zwanzig Jahren, in den Ringerraum gekommen war. Jenny war damals
jünger als diese Krankenschwester, dachte er gerade. Wenn Helen aufgeblickt und
diese Krankenschwester gesehen hätte, hätte sie vielleicht irrtümlich gedacht,
ihre verschollene Mutter habe endlich beschlossen, aus ihrem Versteck
hervorzukommen.
    Als Garp die Pistole sah,
bemerkte er außerdem, dass es kein richtiger Schwesternkittel war, sondern ein Jenny Fields Original mit dem charakteristischen roten
Herzen auf der Brust. Dann sah Garp die Brüste der Krankenschwester – sie waren
klein, aber zu fest und jungmädchenhaft spitz für eine Frau mit stahlgrauen
Haaren; und ihre Hüften waren zu schmal, ihre Beine zu schlank. Als Garp wieder
in das Gesicht blickte, sah er die Familienähnlichkeit: die kantige Kinnpartie,
die Midge all ihren Kindern mitgegeben hatte, die fliehende Stirn, die Fat
Stews Beitrag gewesen war. Diese Kombination verlieh den Köpfen aller

Weitere Kostenlose Bücher