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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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manchmal blieb Duncan auf und hörte zu, und manchmal blieb [779]  Roberta
zum Abendessen, und er las auch ihr vor. Er wurde plötzlich großzügig in allem,
was die Fields Foundation betraf. Die anderen Mitglieder des Beirats ärgerten
sich sogar über ihn: Garp wollte jeder Bewerberin etwas geben. »Es klingt so
ehrlich«, sagte er immer wieder. »Ihr seht doch, sie hat ein schweres Leben
gehabt«, erklärte er ihnen. »Ist denn nicht Geld genug da?«
    »Nicht wenn wir es so zum Fenster
rauswerfen«, sagte Marcia Fox.
    »Wenn wir keine strengere Auswahl
treffen, als Sie da vorschlagen«, sagte Hilma Bloch, »sind wir verloren.«
    »Verloren?«, sagte Garp. »Wie
können wir verloren sein?« Garp war, diesen Eindruck
hatten sie alle (außer Roberta), über Nacht ein liberaler Schlappschwanz
geworden: Er wollte keine Maßstäbe mehr anlegen. Aber er war vollauf damit
beschäftigt, sich all die traurigen Geschichten seiner fiktiven Familie auszudenken,
und schwamm daher so in Mitgefühl; er verströmte einen Hauch von Güte in der
realen Welt.
    Der Jahrestag von Jennys
Ermordung sowie der plötzlichen Beerdigungen von Ernie Holm und Stewart Percy
ging für Garp bei dieser erneuerten schöpferischen Energie schnell vorbei. Dann
nahm ihn wieder die Ringersaison in Anspruch; Helen hatte ihn noch nie so
ausgefüllt, so uneingeschränkt konzentriert und unerbittlich erlebt. Er wurde
wieder der entschlossene junge Garp, in den sie sich hatte verlieben müssen,
und sie fühlte sich so sehr zu ihm hingezogen, dass sie oft weinte, wenn sie
allein war – ohne zu wissen, warum. Sie war zu viel allein; jetzt, wo Garp
wieder eine Menge um die Ohren hatte, erkannte Helen, dass sie [780]  zu lange
untätig gewesen war. Sie ließ sich von der Steering School einstellen, um
wieder unterrichten und ihren Verstand für ihre eigenen Ideen benutzen zu
können.
    Außerdem gab sie Ellen James
Fahrunterricht, und Ellen fuhr zweimal in der Woche zur State University, wo
sie an einem Kurs in kreativem Schreiben teilnahm. »Diese Familie ist nicht
groß genug für zwei Schriftstellerkarrieren, Ellen«, zog Garp sie auf. Wie sie
sich alle über seine gute Laune freuten! Und jetzt, wo Helen wieder arbeitete,
war sie längst nicht mehr so besorgt.
    In der Welt, wie Garp sie sah,
konnte ein Abend heiter sein, und der nächste Morgen mörderisch.
    Später sollten sie
(einschließlich Roberta) oft sagen, wie gut es sei, dass Garp die erste
Buchausgabe der Pension Grillparzer – illustriert von
Duncan Garp, und rechtzeitig zu Weihnachten herausgebracht – noch zu Gesicht
bekam, ehe er den Sog erblickte.

[781]  19
    Ein Leben nach Garp
    Wie er uns mit der Pension Grillparzer vor Augen führte, liebte er Epiloge.
    »Ein Epilog«, schrieb Garp, »ist
mehr als eine Aufzählung der Verluste. Ein Epilog ist eine als Nachbereitung
der Vergangenheit verkleidete Methode, uns vor der Zukunft zu warnen.«
    An jenem Februartag hörte Helen,
wie er Ellen James und Duncan beim Frühstück Witze erzählte; es klang ganz so,
als blickte er zuversichtlich in die Zukunft. Helen badete die kleine Jenny,
puderte sie, rieb ihr die Kopfhaut mit Öl ein, schnitt ihr die winzigen
Fingernägel und zog ihr den gelben Strampelanzug an, den einst Walt getragen
hatte. Sie roch den Kaffee, den Garp gekocht hatte, und hörte, wie er Duncan
antrieb, sich auf den Schulweg zu machen.
    »Um Himmels willen, doch nicht die Mütze, Duncan«, sagte Garp. »Die Mütze könnte nicht
mal einen Vogel warm halten. Es sind zwanzig Grad minus.«
    »Es sind zehn Grad minus, Dad«, sagte Duncan.
    »Haarspaltereien«, sagte Garp.
»Auf jeden Fall ist es sehr kalt.«
    In diesem Augenblick musste Ellen
James durch die Garagentür hereingekommen sein und einen Zettel [782]  geschrieben
haben, denn Helen hörte, wie Garp sagte, er würde ihr sofort helfen; offenbar
konnte Ellen das Auto nicht starten.
    Dann war es in dem großen Haus
eine Weile still; wie von ferne hörte Helen nur das Knirschen von Stiefeln im
Schnee und die trägen Anlassgeräusche des kalten Wagenmotors. »Mach’s gut!«,
hörte sie Garp hinter Duncan herrufen, der gerade zu Fuß die Einfahrt
hochstapfte – zur Schule.
    »Ja!«, rief Duncan. »Du auch!«
    Das Auto sprang an; Ellen James
fuhr zur Universität. »Fahr vorsichtig!«, rief Garp hinter ihr her.
    Helen trank ihren Kaffee allein.
Die unartikulierten Selbstgespräche der kleinen Jenny hatten sie sonst manchmal
an die Ellen-Jamesianerinnen erinnert – oder an Ellen,

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