Garp und wie er die Welt sah
wenn sie außer Fassung
war –, aber nicht an diesem Morgen. Das Baby spielte still mit irgendwelchen
Plastiksachen. Helen konnte Garps Schreibmaschine hören – das war alles.
Er schrieb drei Stunden. Die
Schreibmaschine ratterte drei oder vier Seiten am Stück herunter und verstummte
dann so lange, dass Helen schon meinte, Garp hätte das Atmen eingestellt; dann,
als sie es schon vergessen hatte und in ihre Lektüre oder irgendeine
Beschäftigung mit Jenny vertieft war, klapperte die Schreibmaschine erneut los.
Um halb zwölf hörte Helen, wie er
Roberta Muldoon anrief. Garp wollte vor dem Ringertraining eine Partie Squash
mit ihr spielen, ob Roberta sich von ihren »Girls«, wie Garp die
Stipendiatinnen der Fields Foundation nannte, loseisen könne.
»Wie geht’s den Girls heute,
Roberta?«, fragte Garp.
[783] Aber Roberta konnte nicht.
Helen hörte die Enttäuschung in Garps Stimme.
Später sollte die arme Roberta
immer wieder sagen, sie hätte spielen sollen; wenn
sie doch nur gespielt hätte, setzte sie hinzu, sie hätte es vielleicht kommen
sehen – vielleicht wäre sie in der Nähe gewesen, wachsam und auf dem Sprung,
und hätte die Spur der realen Welt entdeckt, die Pfotenabdrücke, die Garp immer
übersehen oder ignoriert hatte. Aber Roberta Muldoon konnte an diesem Tag
nicht.
Garp schrieb noch eine halbe
Stunde. Helen wusste, dass er einen Brief schrieb; irgendwie erkannte sie den
Unterschied am Schreibmaschinengeklapper. Er schrieb wegen Meines Vaters Illusionen an John Wolf; er freute sich, welche
Fortschritte das Buch machte. Er klagte, dass Roberta ihre Arbeit zu ernst
nehme und sich nicht darum kümmere, dass ihre Form flöten gehe; keine Verwaltungsarbeit sei so viel Zeit wert, wie Roberta sie
für die Fields Foundation opfere. Garp schrieb, dass die niedrigen
Verkaufszahlen der Pension Grillparzer in etwa seinen
Erwartungen entsprächen; Hauptsache sei, dass es ein »zauberhaftes Buch« sei –
er schaue es sich gern an, und er verschenke es gern, und die Wiedergeburt
jener Erzählung sei eine Wiedergeburt für ihn gewesen. Er schrieb, er rechne
mit einer besseren Ringersaison als im Vorjahr, obgleich er sein erstes
Schwergewicht an eine Knieoperation und seinen einzigen neuenglischen Meister
an die Schulabschlussprüfung verloren habe. Er schrieb, das Zusammenleben mit
jemandem, der so viel lese wie Helen, sei irritierend und inspirierend
zugleich; er wünschte, er könne ihr etwas zu lesen geben, das sie die anderen
Bücher zuklappen lasse.
[784] Um zwölf kam er, küsste Helen,
streichelte ihre Brüste und küsste die kleine Jenny, immer wieder, während er
sie in einen Schneeanzug steckte, in dem Walt auch schon gesteckt hatte – und
vor Walt hatte sogar Duncan ab und an darin gesteckt. Als Ellen James mit dem
Auto zurückkam, fuhr Garp Jenny zur Kindertagesstätte. Dann ging er kurz in
Buster’s Snack and Grill, auf seine übliche Tasse Tee mit Honig, seine eine
Mandarine und seine eine Banane. Das sei sein ganzes Mittagessen, bevor er
laufe oder ringe, erläuterte er einem neuen Englischlehrer – einem jungen Mann,
der frisch von der Universität kam und für Garps Bücher schwärmte. Er hieß
Donald Whitcomb, und bei seinem nervösen Stottern erinnerte sich Garp wehmütig
an den verblichenen Mr. Tinch und den schnelleren Puls, den er immer noch
bekam, wenn er an Alice Fletcher dachte.
An diesem speziellen Tag hatte
Garp nur den einen Wunsch, mit irgendjemandem über sein Schreiben zu reden, und
der junge Whitcomb hatte nur den einen Wunsch, ihm zuzuhören. Don Whitcomb
sollte sich später erinnern, dass Garp ihm von dem Gefühl erzählte, einen Roman
anzufangen. »Es ist, wie wenn man versucht, die Toten zum Leben zu erwecken«,
sagte er. »Nein, nein, das stimmt nicht – es ist mehr so wie der Versuch, jedem
ewiges Leben zu geben. Sogar denen, die am Ende sterben müssen. Die vor allem
muss man am Leben erhalten.« Zuletzt fiel Garp eine Formulierung ein, die ihm
zu gefallen schien. »Ein Romancier ist ein Arzt, der nur unheilbare Fälle
behandelt«, sagte Garp. Der junge Whitcomb war so beeindruckt, dass er es
aufschrieb.
Jahre später sollte Whitcomb
seiner Biographie wegen [785] von sämtlichen Möchtegern-Biographen Garps beneidet
und verachtet werden. Whitcomb vertrat die Ansicht, dass diese Blütezeit in
Garps Schaffen (wie Whitcomb sich ausdrückte) im Grunde auf dessen Bewusstsein
der Sterblichkeit beruhte. Der Anschlag, den die Ellen-Jamesianerin in
Weitere Kostenlose Bücher