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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Percys
die Konturen gewalttätiger, todbringender Kriegsschiffe.
    Der erste Schuss riss ihm mit
einem schrillen Piep! die Pfeife aus dem Mund und
hatte zur Folge, dass ihm die Stoppuhr aus den Händen flog. Er setzte sich. Die
Matte war warm. Die Kugel hatte seinen Magen durchschlagen und war in seiner
Wirbelsäule steckengeblieben. Auf der Stoppuhr waren noch knapp fünf Sekunden
Zeit, als Bainbridge Percy zum zweiten Mal feuerte; die Kugel traf Garp in die
Brust und schleuderte ihn, immer noch in sitzender Position, gegen die gepolsterte
Wand zurück. Die [791]  sprachlosen Ringer, ausschließlich Jungen, schienen
bewegungsunfähig. Es war Helen, die Pu Percy auf die Matte legte und sie daran
hinderte, einen dritten Schuss abzugeben.
    Helens Schreie weckten die Ringer
aus ihrer Erstarrung. Einer von ihnen, das zweite Schwergewicht, nagelte Pu
Percy bäuchlings auf die Matte und zerrte ihre Hand mit der Pistole unter ihr
hervor; sein hochsausender Ellbogen riss Helen die Lippe auf, aber sie spürte
es kaum. Der erste 65-Kilo-Mann, dessen kleiner Finger an den Ringfinger
getaped war, rang Pu die Pistole aus der Hand, indem er ihr den Daumen brach.
    In dem Augenblick, in dem ihr
Knochen knackte, schrie Pu Percy; selbst Garp sah,
was aus ihr geworden war – der Eingriff musste neueren Datums sein: in Pu Percys
offenem kreischenden Mund konnte fast jeder, der in ihrer Nähe war, die
schwarze Ansammlung von Stichen sehen, die sich ameisengleich auf dem Stumpf
dessen drängten, was einst ihre Zunge gewesen war. Das zweite Schwergewicht
hatte solche Angst vor Pu, dass es sie zu kräftig nach unten drückte und ihr
eine Rippe brach; Bainbridge Percys kürzlich ausgebrochener Wahnsinn – eine
Ellen-Jamesianerin zu werden – war eindeutig schmerzhaft für sie.
    »Sch’ei’e!«, schrie sie. »’mm’e
Sch’ei’e!« Ein »’mm’es Sch’ei« war ein »verdammtes Schwein«, aber man musste
eine Ellen-Jamesianerin sein, um Pu Percy jetzt zu verstehen.
    Der erste 65-Kilo-Mann hielt die
Pistole auf Armeslänge von sich ab, mit der Mündung nach unten zur Matte und in
eine leere Ecke des Ringerraums. »Sch’ei!«, würgte Pu ihn an, aber der
zitternde Junge starrte auf seinen Trainer.
    [792]  Helen hielt Garp fest; er
begann, an der Wand nach unten zu rutschen. Er konnte nicht sprechen, das
wusste er; er konnte nicht fühlen, er konnte nichts berühren. Er hatte nur
einen geschärften Geruchssinn, was ihm noch an Augenlicht vergönnt war und
seine lebhafte Erinnerung.
    Garp war zum ersten Mal froh,
dass Duncan sich nicht fürs Ringen interessierte. Dank seiner Vorliebe fürs
Schwimmen blieb es Duncan erspart, das hier zu sehen; Garp wusste, dass Duncan
jetzt gerade aus der Schule kommen oder schon am Schwimmbecken sein würde.
    Garp tat es leid für Helen – dass
sie da war –, aber er war auch glücklich, ihren Duft ganz nahe bei sich zu
haben. Er kostete ihn aus, neben jenen anderen vertrauten Gerüchen im
Ringerraum von Steering. Hätte er sprechen können, er hätte zu Helen gesagt,
sie solle sich nicht mehr vor dem Sog fürchten. Zu seiner Überraschung wurde
ihm klar, dass der Sog kein Fremder war, nicht einmal geheimnisvoll; der Sog
war etwas Gewohntes – als hätte er ihn schon immer gekannt, als wäre er mit ihm
aufgewachsen. Er war nachgiebig wie die warmen Ringermatten; er roch wie der
Schweiß sauberer Jungen – und wie Helen, die erste und letzte Frau, die Garp
liebte. Der Sog, das wusste Garp jetzt, konnte sogar aussehen wie eine
Krankenschwester: jemand, der sich mit dem Tod auskennt und den professionellen
Umgang mit Schmerz erlernt hat.
    Als Rektor Bodger mit Garps
Skimütze in der Hand die Tür des Ringerraums öffnete, hatte Garp keinen Zweifel
daran, dass der Rektor wieder einmal gekommen war, um die Rettungsmannschaft zu
organisieren – damit sie den Jungen auffing, der vom Nebengebäude der [793]  Krankenstation,
vier Stockwerke über der sicheren Welt, herabfiel. Die Welt war nicht sicher.
Rektor Bodger, das wusste Garp, würde sein Bestes tun, um zu helfen; Garp
lächelte ihn dankbar an, auch Helen – und seine Ringer; einige von ihnen
weinten jetzt. Garp blickte sein schluchzendes zweites Schwergewicht, das Pu
Percy auf die Matte presste, voll Zärtlichkeit an; Garp wusste, was für eine
schwere Saison der arme dicke Junge vor sich hatte.
    Garp blickte Helen an; die Augen
waren alles, was er bewegen konnte. Helen, das sah er, versuchte
zurückzulächeln. Mit den Augen versuchte Garp, sie

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