Garp und wie er die Welt sah
unvollendete Manuskript von Meines Vaters
Illusionen, die meisten Tagebücher und Notizen von ihm gehütet. Sie
erklärte all den Möchtegern-Biographen, genau wie er es getan hätte: »Lesen Sie das Werk. Vergessen Sie das Leben.«
Sie schrieb selbst mehrere
Aufsätze, die in der Fachwelt große Beachtung fanden. Einer hieß Der Abenteurerinstinkt beim Erzählen . Es war eine
vergleichende Untersuchung der Erzähltechniken Joseph Conrads und Virginia
Woolfs.
Helen sah sich immer als Witwe
mit drei Kindern – Duncan, der kleinen Jenny und
Ellen James, die Helen alle überlebten und bei ihrem Tod viele Tränen vergossen.
Sie waren zu jung und zu überrumpelt gewesen, um Garp ebenso viele Tränen
nachzuweinen.
Rektor Bodger, der bei Garps
Tod fast so viele Tränen vergoss wie Helen, blieb treu wie ein Bullterrier, und
ebenso zäh. Noch lange nach seiner Pensionierung suchte er nachts den Campus
der Steering School ab, wenn er nicht schlafen konnte; dann und wann erwischte
er Herumtreiber oder Liebende, die auf den Wegen entlangschlichen oder sich an
den schwammigen Boden drückten – unter den weichen Büschen, an den schönen alten
Gebäuden und so fort.
Bodger blieb so lange in Steering
tätig, wie Duncan Garp brauchte, um seine Abschlussprüfung zu machen. »Ich habe
deinen Vater durchgebracht, mein Junge«, erklärte der Rektor. »Ich werde auch
dich durchbringen. Und wenn man mich lässt, werde ich bleiben, um deine
Schwester [800] durchzubringen.« Aber man nötigte ihm schließlich den Ruhestand
auf; dabei wurde im kleineren Kreis, neben anderen Problemen, auf seine
Angewohnheit verwiesen, beim Gottesdienst Selbstgespräche zu führen, und auf
die bizarren mitternächtlichen Festnahmen von Jungen und Mädchen, die nach
Torschluss draußen ertappt worden waren. Man erwähnte auch das öfter
wiederkehrende Trugbild des Rektors: dass es der kleine Garp gewesen sei, den
er – eines Nachts, vor vielen Jahren – aufgefangen habe, und keine Taube.
Bodger weigerte sich, vom Campus zu ziehen, selbst als er im Ruhestand war, und
trotz – oder vielleicht wegen – seiner Halsstarrigkeit wurde er der
meistgeehrte Emeritus von Steering. Man holte ihn zu allen Schulfeiern; man
geleitete ihn aufs Podium, stellte ihn Leuten vor, die nicht wussten, wer er
war, und dann brachte man ihn wieder fort. Vielleicht duldete man sein
sonderbares Benehmen, weil man ihn zu Repräsentationszwecken vorführen konnte;
noch bis weit in die Siebziger sollte Bodger zum Beispiel – manchmal wochenlang – überzeugt gewesen sein, er wäre immer noch Rektor.
»Sie und kein
anderer sind hier der Rektor«, zog Helen ihn gern auf.
»Natürlich, wer sonst!«, polterte
Bodger.
Sie trafen sich häufig, und als
Bodger immer schwerhöriger wurde, sah man ihn immer häufiger am Arm dieser
netten Ellen James, die sich darauf verstand, mit Leuten zu reden, die nicht
hören konnten.
Rektor Bodger blieb sogar der
Ringermannschaft von Steering treu, deren glorreichen Jahre bald aus dem
Gedächtnis der meisten verschwanden. Die Ringer sollten nie [801] wieder einen
Trainer vom Format Ernie Holms oder auch nur Garps haben. Sie wurden eine
Verlierermannschaft, und doch hielt Bodger immer zu ihnen und feuerte den armen
Jungen von der Steering School, der auf den Rücken plumpste und gleich auf die
Schultern gelegt wurde, die ganze zweite Runde an.
Bodger starb bei einem Ringkampf.
In der All-Kategorie – bei einem ungewöhnlich ausgeglichenen Kampf – rutschte
das Schwergewicht von Steering mit seinem ebenso erschöpften und mitgenommenen
Gegner am Boden herum; wie gestrandete Waljunge zappelten sie nach der Oberhand
oder nach Gutpunkten, während die Uhr ablief. »Fünfzehn Sekunden!«, brüllte der
Mattenleiter. Die großen Jungen mühten sich ab. Bodger sprang auf, stampfte und
feuerte sie an. »Gott!«, kreischte er – sein Deutsch
brach sich zu guter Letzt Bahn.
Als die Runde zu Ende war und die
Tribüne sich leerte, blieb der pensionierte Rektor zurück – tot auf seinem
Sitz. Es bedurfte viel Zuspruchs von Helen, bis der empfindsame junge Whitcomb
seinen Kummer über den Verlust Bodgers überwand.
Donald Whitcomb schlief nie
mit Helen, trotz aller Gerüchte unter den neidischen Möchtegern-Biographen, die
danach gierten, Hand an Garps Besitz und Garps Witwe zu legen. Whitcomb sollte
sein Leben lang, das er praktisch damit zubrachte, sich an der Steering School
zu verstecken, ein mönchischer Eremit sein. Es war sein großes Glück,
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